Kiss Me Twice Read online

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  »Nein, Eve. Hast du dir schon mal überlegt, wie das aussehen würde, wenn uns die Presse erwischt?«, fragte ich sie barsch. »Prescot van Klemmt-Bloomsbury, Sohn des potenziellen zukünftigen Königs von Nova Scotia mit seiner minderjährigen Cousine in zwielichtigem Club erwischt. Nein, danke …«

  Eve funkelte mich an, während sie sich Sir Henry schnappte und wütend aufstand. »Weißt du was? Ich brauch dich gar nicht!«, zischte sie zornig. »Ich bin eine Bloomsbury. Wenn ich wo hinwill, dann schaffe ich das auch allein.«

  »Klar, viel Glück! Und schick mir dann eine Postkarte.«

  Ich winkte spöttisch, während Sir Henry ein röchelndes Örgs von sich gab. Brodelnd stöckelte Evangeline in etwa drei Meter weit davon, ehe sie sich in einen leeren Sitz fallen ließ und schmollend aus dem Fenster starrte.

  Bloody hell. Ich schloss die brennenden Augen und machte sie erst wieder auf, als ich hörte, wie sich jemand in den Sitz schräg vor mir warf. Es war Helena, die aussah wie eine Katze, die gerade einen Sahnetopf ausgeleckt hatte. Als sie meinen Blick sah, zog sie eine Schnute.

  »Was ist?«, giftete sie los. »Darf ich keinen Spaß haben? Hier haben alle eine Verschwiegenheitsdingens unterschrieben, niemand wird was sagen.«

  »Kennst du eine App namens Royal-It?«, fragte ich sie träge.

  Helena blinzelte mich an. »Na klar, wer kennt die nicht?«, kam die Gegenfrage.

  »Sag bloß, du hast da auch ein Profil?«, fragte ich irritiert.

  »Du etwa nicht? Wo lebst du denn? Auf dem Mond?«, fragte sie beinahe genauso irritiert zurück.

  »Unfassbar«, sagte ich nur kopfschüttelnd und schlief ein.

  Silver

  »Carter! Hör auf zu beißen! Melody! Nicht spucken! Josh! Sherly! Wenn ich noch einmal sehe, dass ihr versucht, die Dummys in Brand zu stecken, dann dürft ihr den Rest des Trainings Liegestütze machen.«

  Streng starrte ich auf die lärmende Rasselbande und ließ das Feuerzeug in meiner Hosentasche verschwinden.

  »Wenn der Feind brennt, ist er zumindest tot«, erklärte Josh, wie so oft viel zu pragmatisch für einen Siebenjährigen.

  »Hilft sogar bei Vampiren«, gab seine Zwillingsschwester Sherly zu bedenken.

  Seufzend verschränkte ich die Arme vor der Brust. »Habt ihr zwei euch wieder heimlich Van Helsing reingezogen? Carter! Ich habe doch gesagt, hör auf zu beißen!«

  Ich rannte zu den zwei Kindern, die eigentlich gerade am Dummy-Modell lernten, einen Gegner an empfindlichen Stellen zu treffen, auch wenn man viel kleiner und schwächer war, doch das Ganze war zu einem wilden Geschrei und Dummy-Massaker eskaliert. Kinder krabbelten auf den armen Puppen herum, verbissen sich – wie Carter – in deren Beine, oder … Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Josh versuchte, seine Puppe mit dem Kletterseil zu erdrosseln. Ich pflückte Carter vom Bein des Dummys und sah ihn streng an. »Spuck den Schaumstoff aus, Kleiner!«

  Der grinste und schluckte.

  Ich seufzte und zuckte zusammen, als eine gut gelaunte Stimme hinter mir erklang.

  »Na, das sieht doch nach einem gelungenen Training aus.«

  Harry kam in den Übungsraum und wurde beinahe von einer Horde Johlender über den Haufen gerannt. Das waren keine Kinder. Das waren Monster! Die meisten von ihnen waren die Kinder von Bodyguards, die bei Harry angestellt waren. Ich wollte gar nicht wissen, wie es bei denen zu Hause zuging.

  »Harry, was kann ich für dich tun?«, fragte ich und hob Melody von ihrer Puppe. »Du sollst der Puppe nicht die Haare flechten, Süße, sondern ihr ins Knie treten.«

  Die Kleine sah mich skeptisch an. »Aber die Puppe ist so hässlich.«

  »Tja, da hast du recht«, räumte ich ein. »Aber wenn du dich später mal wehren können willst, musst du lernen zuzuschlagen, und nicht, den Gegner zu frisieren.«

  Die Kleine seufzte und trat wenig optimistisch auf die Puppe ein.

  »Sehr gut.« Ich wandte mich ab und lächelte Harry an, der mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck musterte. »Wie kann ich dir helfen?«, wiederholte ich meine Frage.

  Er blinzelte, sichtlich in Gedanken versunken. »Es gibt da etwas, was ich gern mit dir besprechen würde.«

  »Einen neuen Job?« Ich spürte, wie sich mein gesamtes Gesicht zu einem Lächeln verzog.

  Harry schmunzelte liebevoll. »Nein, eher so was wie … Urlaub.«

  »Oh …« Prompt fiel mein Lächeln wieder in sich zusammen. Ich wich zwei Kindern aus, die sich am Boden wälzten, und verschränkte die tätowierten Arme vor der Brust. Die Schlange an meinem Handgelenk blinzelte mich mit grünen Augen an. »Ich fahr nicht nach Kanada, Harry. Das hab ich Ryan auch schon gesagt. Was soll ich denn da?«

  Harry räusperte sich. »Ich habe in den letzten Tagen versucht, einen Job für dich zu finden, Silver. Aber es sieht nicht gut aus. Zumindest nicht in den nächsten Wochen oder gar Monaten. Die Firma kann dich nur so lange bezahlen, wie wir dich vermitteln. Außer du reichst offiziell Urlaub ein. Du hattest ja seit deinem Abschluss keinen mehr, und inzwischen sind mehr als drei Monate offen. Er wäre auch bezahlt. Und ich denke, Urlaub ist genau das, was du im Moment gebrauchen könntest.«

  »Ich will ab…«

  »Ryan vermisst dich. Und ich weiß, du vermisst ihn auch«, unterbrach er mich mit scharfem Blick.

  Ich klappte den Mund zu. Harry lächelte, und ich sah die Sorge darin, nicht nur um seinen Sohn, sondern vor allem um mich. Harry wusste genau, dass Ryan so ziemlich mein einziger Freund war. Ausgerechnet Ryan! Ich musste im Leben echt viel falsch gemacht haben.

  »Wenn du meinen Rat hören willst: Flieg nach Kanada und mach dir eine schöne Zeit. Vielleicht habe ich ja danach etwas für dich.«

  »Harry …«, setzte ich an, als ich aus dem Augenwinkel Sherly sah, die ihrer Puppe einen Gegenstand in die Brust rammte, der wie ein Pflock aussah.

  Harry und ich taten beide so, als würden wir es nicht bemerken.

  »Harry, ich kann doch nicht …« Die Worte blieben mir im Hals stecken.

  »Überleg’s dir«, wiederholte Harry.

  »Okay, mach ich«, versprach ich und wandte mich mit einem seltsamen Gefühl in der Brust ab.

  Einige Stunden später ließ ich mich auf meine Schlafcouch fallen und starrte düster die Decke an. Die Glühbirne blinzelte leicht, während ich mir aus der Hosentasche einen Chupa Chup schnappte und das Plastik knisternd von der süßen Kugel abriss. Der zuckrige und absolut köstliche Geschmack nach Kirsche breitete sich in meinem Mund aus und erinnerte mich an vertraute Dinge: an das Lachen meiner Mom, an die Umarmung meines Dads und an Ryan, wie ich ihm das Gesicht in den Sandkasten drückte.

  Seufzend schob ich den Lolli in meine linke Backe. Sollte ich Harrys Vorschlag annehmen? Urlaub in Kanada? Bei Ryan? Harry hatte recht, ich vermisste den verräterischen Mistkerl. Allerdings hatte ich auch noch nie die Staaten verlassen. Bisher hatte es dazu nie einen Grund gegeben. Die Arbeit war in meinem Leben so präsent und wichtig, dass ich nie über etwas anderes nachgedacht hatte. Ganz abgesehen davon, dass ich an mein Erspartes würde gehen müssen, um mir den Flug nach Vancouver leisten zu können.

  War es das wert?

  Ein Klopfen an der Tür ließ mich aufsehen. Irritiert starrte ich auf die tickende Uhr an der Wand gegenüber. Wer zum Teufel kam um zehn Uhr abends unangemeldet zu Besuch? Das Klopfen brach nicht ab, also schwang ich mich auf die Beine und riss die Tür auf. Die Sicherungskette klirrte und ließ mich genau zehn Zentimeter von der Person erkennen, die mich blass anstarrte.

  »Silver, gut, dass du da bist«, krächzte sie. Der Geruch von abgestandenem Zigarettenqualm quoll mir entgegen.

  »Tante Merryl? Was machst du denn hier?«

  Ich verengte die Augen zu Schlitzen und musterte meine Tante. Sie sah müde und abgekämpft aus. Definitiv dünner, als ich sie in Erinnerung hatte. Ihr dunkles Haar war wie immer zu einem strengen Knoten gebunden. Äußerlich ähnelten wir uns nicht wirklich, es waren nur ihre großen, hellen Augen, die mich an meine Mum erinnerten und mir selbst ent
gegenblickten, wenn ich in den Spiegel sah.

  »Willst du mich nicht reinlassen, Daisy?«, fragte sie mich gewohnt streng. Sie klang immer ein wenig wie eine Gouvernante. Dazu passte auch ihre steife Haltung, als hätte sie einen Besenstiel verschluckt. Allein die Augen verrieten, dass sie unter Druck stand. Sie war unruhig, ihr Blick huschte hektisch umher, als würden sie einer unsichtbaren Maus nachjagen.

  »Nicht wirklich«, sagte ich, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte die Hüften gegen die Wand. »Du besuchst mich doch sonst auch nie. Außer du brauchst Geld. Und ich habe kein Geld mehr, das ich dir geben kann.«

  »Nun sei doch nicht albern.« Sie lachte gezwungen, was die feinen Falten an ihren Mundwinkeln noch tiefer wirken ließ. »Darf ich nicht mal meine liebe Nichte besuchen? Wir sehen uns doch so selten. Ich mache mir Sorgen um dich.«

  »Du? Um mich? Du hast dir noch nie Sorgen um mich gemacht«, sagte ich hart und fühlte dabei das Ziepen über meiner linken Augenbraue. Dort war eine kleine Narbe. Eine Narbe, die mir einer ihrer Männer verpasst hatte, als er eine Bierflasche nach mir geworfen hatte. Ich war damals sieben gewesen.

  »Das stimmt nicht …« Merryls Gesichtsausdruck verhärtete sich, während ihre Hand nach vorn schnellte und die Kette zwischen uns umklammerte. Jeder einzelne ihrer Handknöchel stach dabei hervor. »Das stimmt nicht«, wiederholte sie hart. »Ich habe immer mein Bestes getan.«

  Nun, vielleicht. Aber ihr Bestes war eben nicht gut genug gewesen. Ich sagte das nicht, doch sie wusste, dass ich es dachte, und neigte den Kopf. Sie atmete durch.

  »Warum bist du hier?«, fragte ich erneut. Ohne dass ich es wollte, wurde meine Stimme weicher.

  Merryl sah auf, und ich bemerkte den Hoffnungsschimmer in ihren Augen. Sofort bereute ich mein dummes weiches Herz.

  »Du willst doch Geld«, stellte ich emotionslos fest.

  Der Blick meiner Tante flackerte. Ich trat einen Schritt zurück. Die Kette zwischen uns klimperte.

  »Ich habe kein Geld, das ich dir geben kann, Merryl. Frag meinen Vater, wenn es nicht anders ge…«

  »Bitte, Silver, du verstehst es nicht. Es geht nicht nur um Geld«, fiel sie mir ins Wort, und die Panik, die echte Panik in ihrer Stimme hielt mich davon ab, ihr die Tür vor der Nase zuzuschlagen. »Es geht um Randy«, flüsterte sie.

  Randy. Ihr vierter Ehemann. Sie waren seit drei Jahren verheiratet, und damit war das wahrscheinlich die längste Ehe von Tante Merryl, auch wenn ich aufgehört hatte mitzuzählen. Randy war ein Kerl Anfang vierzig mit Bierbauch und Halbglatze, der rauchte wie ein Schlot. Trotzdem war er verglichen mit den Kerlen davor noch das geringste Übel.

  »Was ist mit ihm?«, fragte ich und merkte, wie hart meine eigene Stimme klang, während ich meine Tante scharf musterte. Mir erlaubte, den Blick länger auf ihrem Gesicht verweilen zu lassen. Ich musste meine Meinung revidieren. Die dunklen Schatten unter ihren Augen konnten unmöglich nur von der Müdigkeit kommen. Es sah eher aus wie … War das etwa ein verheilendes Veilchen? Ich verengte die Augen abermals zu Schlitzen.

  »Schlägt er dich?«, fragte ich, und Merryl zuckte kaum merklich zusammen, ehe sie wieder ihre Besenstielhaltung annahm und den Kopf schüttelte.

  »Randy? Nein, Randy würde so etwas niemals tun, das weißt du doch. Das ist … das ist nur … ein Teil des Problems …«

  Sie sah mich an, und ich merkte, wie ich im Geiste bereits dabei war, die Kette zu lösen und meine Tante hereinzulassen. Ich wusste jetzt schon, wenn sie wieder ging, würde sie meine Wohnung mit vollen Händen verlassen und mich mit noch leereren als zuvor zurücklassen. So wie immer.

  Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Was ist passiert?«

  Merryls Unterlippe zitterte, als sie schluckte. »Es ist … Randy steckt in Schwierigkeiten. Du weißt, er ist ein guter Mann. Er hat versucht, etwas auf die Beine zu stellen, etwas Vernünftiges. Du hättest ihn sehen sollen, er war so dynamisch.« Ihre Augen leuchteten auf wie zwei matte Scheiben, die von der Sonne beschienen wurden. »Er hatte doch diese Businessidee.«

  »Oje, du meinst die Schnapsidee mit dem Pfandleihhaus?«, schnaubte ich, und Merryl sah mich streng an.

  »Das war keine Schnapsidee. Es lief gut. Sehr gut sogar. Bis er sich Geld von den falschen Leuten geliehen hat, um das Geschäft auszubauen.« Sie seufzte leise und vorwurfsvoll, und ich spürte, wie mich die Enttäuschung darüber, von Anfang an richtig gelegen zu haben, nach unten zog.

  »Es geht also doch um Geld«, stellte ich fest und fixierte sie ernst. »Wenn es so schlimm ist, dann ruf doch die Polizei, die …«

  Sie unterbrach mich mit einem energischen Kopfschütteln.

  »Doch, Merryl, du musst …«

  »Nein, Silver, keine Polizei. Sie sind bei uns, verstehst du das nicht? Das ist unsere letzte Chance, und wenn sie die Polizei bemerken, dann haben wir gar keine mehr!«, zischte sie und drängte sich direkt vor mir in den Türspalt, so nah, dass ich die roten Äderchen in ihren Augen sehen konnte. Sie hatte geweint. »Bitte, Silver«, flüsterte sie. »Randy hat es nur gut gemeint, aber diese Leute verstehen keinen Spaß. Ich habe schon deinen Vater gefragt, aber das Geld reicht nicht. Sie drohen. Sie drohen … oh, Silver, ich kann Randy nicht verlieren. Nicht ihn, er ist doch alles, was ich noch habe.«

  Nicht nur in ihrer Stimme brach etwas, es war auch eine Veränderung in ihrem Gesicht. Wie ein Riss und ohne jede Vorwarnung barst ein Schluchzen aus ihrem Brustkorb.

  Was sie da sagte, stimmte nicht. Sie hatte ja auch noch mich. Und darum war sie hier.

  Ich spürte, wie ich den Boden unter den Füßen verlor. Wie ich diesen Kampf verlor. Mein dummes weiches Herz. Ich schloss die Augen, spürte, wie sich meine Finger bewegten und sich um die Kette zwischen uns legten. Sie knirschte vor Rost und Alter. Das Holz knarrte, als ich die Tür zu meiner dunklen, kleinen Wohnung aufdrückte.

  »Das ist jetzt aber wirklich das allerletzte Mal …«, flüsterte ich.

  Merryl sog scharf die Luft ein, kam einen Schritt näher und streckte die Arme aus, als wollte sie mich umarmen. Ich schreckte zurück, drehte mich um und hörte den Klang meiner eigenen Schritte viel zu laut auf den Bodendielen knarzen. Als ich die lose Diele in der Küche anhob, sah ich den Schatten meiner Tante hinter mir. Er war lang und zu harten Kanten verzogen. Ihre Stimme war nur ein Ächzen, ein Flüstern, ein Schluchzen.

  »Danke, Daisy, ich …«

  »Nicht!«, fuhr ich sie an und schloss die Augen, als ich die Spardose herausholte.

  Das Schloss brach, genau wie etwas in mir in diesem Augenblick. Ich glaube, es war die Hoffnung. Die dumme, aussichtslose Hoffnung, jemals aus dem Kreislauf meines Lebens ausbrechen zu können.

  Tante Merryl wurde ganz still, beinahe starr, als ich ihr die raschelnden Geldbündel in die Hand drückte. Ich fragte nicht, ob es reichte. Weil es reichen musste. Denn mehr besaß ich nicht.

  Ihre Finger schlossen sich ruckartig um das Geld, und als sie aus der Tür verschwand, nahm sie einen Teil von mir mit. Ich glaube, sie verabschiedete sich, dankte mir. Ich antwortete nicht, schloss nur die Tür hinter ihr und rutschte langsam mit dem Rücken daran hinab.

  Ich wartete. Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht genau, worauf. Vielleicht auf die Tränen, die jedoch nicht kamen. Vielleicht auf den Zorn, der die Tränen meistens begleitete, doch auch der blieb aus. Stattdessen dachte ich an Harrys Angebot. Erschöpft schloss ich die Augen, atmete tief ein und stieß die Luft wieder aus.

  »Gott, steh mir bei. Einmal! Einmal versuche ich es noch. Ein letztes Mal, bevor ich aufgebe …«, flüsterte ich mir selbst zu, und endlich rührte sich etwas in mir. Es war keine Hoffnung, sondern … Überlebenswille? Sturheit? Trotz? Was auch immer es war, es brachte mich auf die Beine, während ich mein Handy hervorkramte. Ich drückte den Namen, ohne wirklich hinsehen zu müssen. Es tutete nur einmal, bevor es in der Leitung knackte.

  »Hey, Silly-Villy, was gib…«

  »Hol mich übermorgen vom Flughafen ab«, unterbrach ich Ryan und sah, wie sich mein Schatten im schmierigen Fenster widerspi
egelte. »Ich komme nach Kanada. Aber hör auf zu jubeln. Du musst mir nämlich dieses dämliche Flugticket kaufen.«

  Silver

  Kanada. Bevölkerung: knapp 37 Millionen Menschen auf einer Fläche von zehn Millionen Quadratkilometern. Ich hatte mir über Kanada nie wirklich Gedanken gemacht. Kein Amerikaner tat das. Die Kanadier waren in etwa so wie die komische schrullige Tante von nebenan. Wenn ich an Kanada dachte, kam mir nur das Bild von Bergen, Schnee und seltsam rot gekleideten Polizisten in den Kopf.

  Meine schwarze Dufflebag schlug mir rhythmisch gegen den Rücken, während ich zusammen mit dem Strom an anderen Menschen in die Flughafenhalle ausgespuckt wurde. Das Erste, was ich bemerkte, als ich meinen Blick schweifen ließ, war, dass die Kanadier riesig waren. Ich war es gewohnt, zumeist die Größte im Raum zu sein. Vor allem aber die größte Frau. Doch die Kanadier schienen irgendetwas zu essen oder zu trinken, was sie um durchschnittlich zehn Zentimeter größer werden ließ. Der Kerl neben mir überragte mich sogar um einen ganzen Kopf. Fasziniert starrte ich ihn an. Er bemerkte meinen Blick, musterte mich und zwinkerte schließlich. Mehr nicht. Kein Stirnrunzeln, das auf meine Tattoos abzielte, kein Schulterstraffen, um noch größer zu wirken. Er grinste bloß, was mich so irritierte, dass ich einfach nur glotzte.

  »Silver!«, hallte mein Name durch die Halle. Ich wirbelte so schnell herum, dass mir mein Flechtzopf über den Rücken fiel. Ich spürte, wie alles in mir weich wurde. Von meiner Brust wich ein Druck, dessen Vorhandensein ich vorher gar nicht bemerkt hatte.

  Ich unterdrückte ein Lächeln und verengte stattdessen die Augen zu Schlitzen.

  Da stand er wirklich. Mit mindestens so vielen Tattoos wie ich und diesem bescheuerten Piercing im Mundwinkel. Ryan MacCain. Der Verräter.

  »Silver! Bist du gewachsen? Komm in meine Arme, du wasserstoffblonde Knalltüte«, grölte Ryan ohne jedes Schamgefühl quer durch die Halle und breitete die Arme aus.