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Kiss Me Once
Kiss Me Once Read online
Als Ravensburger E-Book erschienen 2019
Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH
Originalausgabe
© 2019 Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH,
Postfach 1860, 88188 Ravensburg
© 2019 Stella Tack
Dieses Werk wurde vermittelt von der Literaturagentur
Erzähl:perspektive, München
(www.erzaehlperspektive.de).
Umschlaggestaltung: Anna Rohner unter Verwendung von Fotos von
© piyaphong/Shutterstock; © Maram/Shutterstock und © MrVander/Shutterstock
Lektorat: Tamara Reisinger
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch
Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH
ISBN 978-3-473-47960-3
www.ravensburger.de
Für Libby & Pat Redmond
Thanks for saving me
Ivy
Ich ließ mein blitzblaues Mini Cabrio auf den weiß markierten Parkplatz rollen und stellte den Motor ab. Das monotone Brummen, das mich die letzten drei Stunden begleitet hatte, erstarb plötzlich. Mein mit Anhängern völlig überfüllter Schlüsselbund klimperte, als ich ihn abzog und damit auch dem Radio den Saft abdrehte. Ich nahm die Sonnenbrille von meiner Nase, warf sie in meine Handtasche und sprang aus dem Auto.
Himmel, hatte ich lange gesessen! Ächzend streckte ich mich, zog meinen hochgebundenen Pferdeschwanz fester und schloss den Wagen ab. Die schwüle Hitze Floridas ließ die Luft förmlich flirren, sodass ich mich beeilte, in den Laden zu kommen. Hoffentlich funktionierte wenigstens die Aircondition. Der 7-Eleven sah nämlich genauso aus wie der vor fünf Kilometern. Weißer Kasten, grüne Streifen, abblätternde Farbe und ein leicht defektes Neonschild, sodass die 7 mehr wie eine 1 aussah. Vor fünf Kilometern hatte ich im letzten Moment doch noch gekniffen. Zu deutlich hatte ich noch die Worte meiner Mutter in Erinnerung, dass man sich dort drinnen weit Schlimmeres als nur No-Name-Produkte einfangen konnte. Aber dieses Mal wollte ich es durchziehen. Ich straffte die Schultern und gab mir selbst einen imaginären Tritt, dann betrat ich den Laden. Sofort spürte ich, wie mir die Klimaanlage eiskalte Luft direkt ins Gesicht pustete. Als ich einen kurzen Blick auf mein Spiegelbild in einem der Fenster erhaschte und die pinken Haarspitzen sah, die sich in der feuchten Hitze kringelten, konnte ich nicht anders, als zu grinsen. Da sollte noch einer behaupten, das Ergebnis sähe niemals so aus wie auf der Packung. Ich hatte mein Shirt gestern beim Färben zwar mehr eingesaut als meine Haare, aber das, was letztendlich Farbe abbekommen hatte, sah grandios aus! Das dunkelblaue Chanel-Kostüm, das mir meine Mom rausgelegt hatte, lag immer noch zu Hause auf dem Bett. Stattdessen trug ich eine Jeans-Short aus dem Walmart, kombiniert mit einem weißen T-Shirt, auf dem ein Regenbogeneinhorn Ballett tanzte. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so billige Sachen getragen zu haben, aber bei Gott – ich liebte jedes einzelne Stück! Sogar die No-Name-Flipflops an meinen Füßen, von denen meine Mutter immer behauptete, dass sie schon allein vom Hinsehen eine Plastikvergiftung bekäme. Aber als ich sie im Walmart an der Kasse hatte hängen sehen, war gleich ein Paar in meinem ohnehin schon vollen Einkaufswagen gelandet. Die Einkaufstüten und -kisten stapelten sich nun bereits bis zum geschlossenen Verdeck meines Minis. Den Walmart konnte ich also als Destination-Stop auf meiner Liste abhaken. Jetzt war der 7-Eleven dran.
Neugierig blickte ich mich um. Das Innere des Ladens war genauso schäbig, wie er von außen aussah, und sofort drang mir der aufdringliche Geruch nach Zitronenreiniger in die Nase. Meine Flipflops quietschten auf dem billigen Linoleum, während ich – mit einem der klebrigen Einkaufskörbe in der Hand – zielgenau auf das Regal mit den Isodrinks zusteuerte. Und da war es. Mein Ein und Alles. Das, wofür sich die letzten drei Stunden bereits ausgezahlt hatten.
»Gatorade!«, rief ich voller Freude. Ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. Die wenigen Kunden in meiner Nähe guckten mich zwar ziemlich komisch an, aber das war mir im Augenblick vollkommen egal.
»Kommt zu Mama!«, flötete ich und schaufelte jede blaue Flasche, die mir in die Finger kam, in den Korb. Dabei war mir auch egal, dass die Isodrinks nicht gekühlt waren und sich schon eine leichte Staubschicht auf den Etiketten abgesetzt hatte. In den Dingern war sowieso nichts Natürliches enthalten, was hätte schlecht werden können. Glücklich tätschelte ich den Inhalt des schweren Korbs und hielt auf das Regal mit den Süßigkeiten zu. Meine Augen wurden groß. Ich hatte noch nie so viele Süßigkeiten kaufen können, wie ich wollte. Sofort landete eine Jumbopackung Rainbow Nerds in meinem Korb der Sünde. Gefolgt von Twinkies, Pop-Tarts, Twizzlers, Reese’s-Keksen und Oreos mit Minzgeschmack. Fünf Minuten später sah mein Korb aus, als hätte ich für die Geburtstagsparty einer zuckersüchtigen Achtjährigen eingekauft. An meinem achten Geburtstag hatte es damals nur Lachs-Kanapees mit Kalbsbries gegeben, weshalb ich diesen Einkauf als Akt der ausgleichenden Gerechtigkeit ansah. Als Krönung warf ich daher auch noch ein paar Double Chocolate Fudge Cookies dazu. Mein achtjähriges Ich hätte bei diesem Anblick vor Freude bestimmt angefangen zu heulen. Okay, mein achtzehn Jahre altes Ich war ebenfalls kurz davor, in Tränen auszubrechen. Aber ich hielt mich zurück. Der Verkäufer sollte mich nicht für noch durchgeknallter halten als ohnehin schon.
»Hallo!« Ich grinste breit, als ich meinen überquellenden Korb triumphierend auf seinem Tresen abstellte.
»Hey«, nuschelte er zurück und musterte mich skeptisch. Er musste etwa in meinem Alter sein, vielleicht ein wenig älter. Bestimmt studierte er nebenher. Ein anderer Grund fiel mir nämlich nicht ein, warum man diesen Job hier freiwillig machte. Ich ertappte mich dabei, wie ich ihn anstarrte. Der Ärmste hatte ein unvorteilhaftes Akneproblem und einen Hals, der so lang und dünn war, dass ich seinen Adamsapfel hüpfen sah. Aber dadurch wirkte er viel natürlicher als die Jungs, die ich bisher kennengelernt hatte. Ich konnte mich nicht dran erinnern, wann ich das letzte Mal einen Menschen mit solchen Hautproblemen gesehen hatte. Die meisten, die ich kannte, konnten vor lauter Botox und Lasereingriffen nicht einmal mehr lächeln. Aber dieser Junge wirkte so … normal. Natürlich war vielleicht das bessere Wort. Ich fühlte mich ein bisschen, als hätte ich einen kleinen Kulturschock. Es war alles so ganz anders, als ich es erwartet hatte. Das war zwar irgendwie traurig, aber gleichzeitig fand ich es faszinierend.
»Wie gehts?«, erkundigte er sich höflich bei mir, während er begann, den Süßkram zu scannen und in eine grüne Tüte zu packen.
»Wundervoll, danke! Und selbst?«, erkundigte ich mich überschwänglich, was ihm ein verhaltenes Grinsen entlockte.
»Muss schon gehen. Heiß heute, nicht wahr? Bist du auf dem Weg zum College?«, erkundigte er sich.
»Ja. Zur UCF, ich fange in den nächsten Tagen dort an. Wie kommst du darauf?«
Der Typ lachte, was seine Grübchen aufblitzen ließ. »Ach ja. Erstes Semester«, sagte er, während er meine Einkäufe in die Tüten verfrachtete. Er befüllte inzwischen schon die dritte. »Man sieht es den Neuen immer sofort an. Da ist alles noch so anders und aufregend. Zu diesem Zeitpunkt glauben sie noch, neben dem Büffeln ein Leben zu haben. Deshalb kaufen sie sich auch all die Dinge, die sie zu Hause nicht essen durften.« Spöttisch zog er eine dunkle Augenbraue hoch, während er demonstrativ eines der neonblauen Gatorades in die Tüte warf. Mir stieg die Röte in die Wangen. »Glaub mir, am Ende des Semesters bettelst du deine Mom an, dass sie dir einen grünen Salat macht.«
Niemals!
»Also … gehst du auch auf die UCF?«, erkundigte ich mich und versuchte, nicht ganz so neu und aufgeregt zu wirken. Was gar nicht so einfach war, denn bis gestern hatte ich – wegen des Koffeins – noch nicht einmal Schwarztee trinken dürfen. Wüsste meine Mom von meinem beinahe schon exzessiven Konsum an Gatorades, würde sie wohl einen Herzinfarkt bekommen, mich enter
ben und in eine Klinik für Anonyme Koffeinsüchtige stecken. Nicht zwingend in dieser Reihenfolge.
Mein Versuch, eine coole Miene zu ziehen, musste wohl ziemlich in die Hose gegangen sein, denn sein Lächeln wurde noch breiter.
»Drittes Semester, Englisch und Kunst auf Lehramt. Falls du in einem Fach Mrs Garcia bekommst, nimm die Beine in die Hand und lauf, ehe sie auch noch deine Seele in die Finger bekommt.«
Ich prustete. »Danke für diese aufbauenden Worte. Sollte ich auch einen Pflock mitnehmen?«
»Nein, Weihwasser sollte vorerst reichen. Zumindest, um dir genügend Zeit zu verschaffen«, antwortete er vollkommen ernst und reichte mir die raschelnden Tüten. Insgesamt fünf. »Das macht 90 Dollar und 58 Cent.«
»Augenblick!« Ich wühlte zwischen undefinierbaren Dingen in meiner Handtasche herum, bis ich endlich meine Geldbörse gefunden hatte. Ich zählte die Scheine bar ab und schob ihm hundert Dollar über den Tresen. »Passt so und danke für die Tipps.«
Ich wuchtete mir die Tüten über die Schulter und wollte gerade wieder zurück zu meinem Mini wanken, als eine große Hand mir überraschend zwei wieder abnahm. »Warte. Ich helfe dir noch tragen.«
Perplex hob ich den Kopf und sah zum ersten Mal das weiße Namensschild, das auf seine Brust gepinnt war. »Es bedient Sie: Jeff«, entzifferte ich die krakelige Handschrift. »Danke … Jeff, aber das muss nicht sein. Ich bin ein großes, starkes Mädchen.«
»Gerne. Und natürlich muss das sein. Zu einem großen, starken Mädchen fehlen dir nämlich noch ein paar Zentimeter«, zog er mich auf.
Ich zögerte. Nicht, dass hier so viel Kundschaft rumlaufen würde, dass er sofort jemanden bedienen musste, aber so viel spontane Hilfsbereitschaft war mir doch ein wenig unangenehm. Die Worte von meinem Vater und Harry, die ich in den letzten Jahren immer wieder gehört hatte, hatten eindeutig Spuren hinterlassen. Nicht in fremde Autos steigen, nichts annehmen, keine privaten Dinge ausplaudern. Zu groß war die Gefahr, dass mich jemand erkannte und im nächsten Augenblick auch schon die Presse oder gar Schlimmeres auf der Matte stand. Anders als sonst hatte ich diesmal keine Bodyguards, die mich durch das Chaos schleusten. Ich war allein. Meine Knie zitterten vor Nervosität, doch ich konnte nicht länger hier rumstehen, denn Jeff war schon nach draußen gelaufen. Ich holte tief Luft und eilte ihm hinterher.
Nach der angenehmen Kühle im 7-Eleven war die Hitze draußen wie ein Schlag ins Gesicht. In Florida zu atmen, war in etwa so einfach wie auf dem Meeresboden. Ächzend holte ich den Autoschlüssel aus meiner Handtasche und sperrte den Mini auf, der kurz aufblinkte. Jeff steuerte schnurstracks darauf zu und wollte schon die Kofferraumtür aufmachen, als ich ihn mit einem kurzen Aufschrei davon abhielt.
»Nicht!« Ich rannte zu ihm und drückte die Klappe wieder zu. Dahinter rumpelte es bereits verdächtig. »Wenn du das jetzt aufmachst, fällt alles raus.«
Jeff hob abwehrend die Hände. »Sorry! Wohin dann mit den Tüten? Auf den Rücksitz?«
»Nein! Der … äh … ist auch voll. Warte kurz …«
Ich lächelte, öffnete die Fahrertür und quetschte mich mit meinen raschelnden Tüten hinters Steuer. Vorsichtig platzierte ich die Tüten auf den Haufen, der auf dem Beifahrersitz bereits jede Sicht verstellte. Ich drehte mich wieder zu Jeff herum, damit er mir die restlichen Tüten reichen konnte. Da auf dem Beifahrersitz inzwischen auch schon alles voll war, drückte ich sie kurzerhand zwischen meine Sachen auf dem Rücksitz. Wir zuckten beide zusammen, als wir das Rumpeln von Gatorades hörten, die in den Fußraum hinabpurzelten. Ups.
»Danke für deine Hilfe, Jeff«, sagte ich schnell und schloss die Tür. Gerade als ich den Motor gestartet hatte, klopfte Jeff noch mal vorsichtig an mein Fenster. Ach herrje, langsam wurde er ein wenig aufdringlich. Trotzdem ließ ich das Fenster ein Stück herab und sah ihn fragend an.
Jeff grinste. »Kein Ding, ich helfe gerne. Ich würde dich ja nach deiner Nummer fragen, aber ich denke mal, meine Chancen, dich wiederzusehen, sind höher, wenn ich dir stattdessen Nachhilfe anbiete … falls du im kommenden Semester welche benötigst.«
»Wirklich?« Ich lächelte schwach. »Ich weiß nicht, ob ich welche brauchen werde, aber falls, komme ich gerne auf das Angebot zurück.« Als ob ich Nachhilfe brauchen würde.
»Immer gern.«
»Das ist nett von dir.«
»Ja, so bin ich. Freund und Helfer hübscher Erstsemesterinnen. Falls du Interesse hast, findest du mich in der Verbindung Delta Phi. Frag einfach nach Jeff, die anderen schicken dich dann zu mir.« Jeff räusperte sich, klopfte auf das Dach meines Autos und trat einen Schritt zurück.
»Delta Phi. Ich werd’s mir merken. Bis dann.« Langsam fuhr ich vom Parkplatz. Als ich einen Blick in den Rückspiegel warf, sah ich noch, wie Jeff mir zum Abschied winkte und dann grinsend in den Markt zurückschlenderte.
Okay, irgendwie war er süß gewesen. Und unglaublich nett. Aber was noch besser war: Er hatte keine Ahnung gehabt, wer ich war. Und diese Tatsache ließ mich ebenfalls bis über beide Backen grinsen.
Ryan
Ivy H. Redmond.
18 Jahre alt.
Blonde Haare.
Blaue Augen.
Sommersprossen.
1 Meter 62 groß.
Blutgruppe 0.
Schuhgröße …
Ich ließ die Akte sinken und zog eine Augenbraue hoch. »Ernsthaft? Ihre Schuhgröße?«
»Du verbringst das Semester mit ihr, Junge. Irgendwann wirst du mir für diese ganzen Informationen noch danken.« Harry lachte und schlug mir auf die Schulter.
Fuck! Der Mann mochte vielleicht über fünfzig sein, aber sein Schlag war alles andere als sanft. Ich zwang mich, nicht vor Schmerzen das Gesicht zu verziehen, und überflog erneut die Raw Facts über meine neue Klientin. Auch wenn mir ein paar der Informationen absolut unnötig vorkamen. Ich meine, ernsthaft? Warum musste ich wissen, dass sie heimlich Gatorade trank? Aber Harry – aka mein Dad – würde keine Ruhe geben, ehe er sich nicht sicher war, dass ich mir auch wirklich alle Details eingeprägt hatte. Dafür kannte ich Harry viel zu gut. Ein angepisster Harry war kein guter Harry, weshalb ich mich wieder auf die Akte konzentrierte.
»Wofür steht eigentlich das H. von Ivy H.?«, erkundigte ich mich.
Mein Vater winkte ab. »Sie hat einen zweiten Namen, nach ihrer Großmutter oder so, ist aber nicht so wichtig. Lies weiter.«
Ich schaffte es gerade noch, nicht genervt die Augen zu verdrehen. Stattdessen fasste ich musterschülerhaft den nächsten Absatz zusammen.
»Ivy ist in Florida geboren und aufgewachsen. Einzelkind. Erbin von geschätzten dreißig Milliarden Dollar der Firma RedEnergies, inklusive diverser Tochterunternehmen. Hervorragender Notendurchschnitt in sämtlichen Fächern. Sie hat Harvard und Princeton abgelehnt, um ein Stipendium an der UCF anzunehmen. Sie hat … Warum zum Teufel lehnt man Harvard ab?« Erneut ließ ich die Akte sinken und starrte Harry an.
»Ivy ist ein kleiner Sturkopf«, brummte mein Dad, während er sich im Nacken kratzte. »Ich arbeite jetzt schon … was in etwa fünfzehn Jahre für die Redmonds. Zumindest lange genug, um noch zu wissen, dass sie schon als kleines Kind immer mit dem Kopf durch die Wand musste. Ihr Vater ist ein ehemaliger Absolvent von Harvard und investiert, soweit ich weiß, auch in einige fakultäre Fachbereiche. Bei ihrer Mutter verhält es sich ähnlich mit Princeton. Ich glaube, Ivy hatte daher auch das Gefühl, dort nicht die Anonymität zu besitzen, die ihr die UCF bietet.«
Ich konnte nur den Kopf schütteln. Typisch reiche Kids. Ich konzentrierte mich wieder auf die Akte in meiner Hand und überflog die nächste Zeile: Isst am liebsten Froot Loops zum Frühstück. Ich schnaubte. Welche Achtzehnjährige tat das? Und warum zum Teufel musste ich das wissen? Sollte sie nicht eher goldbestäubten Kaviar oder so essen?
Unwillkürlich musste ich an diese Reality-Shows über die Reichen und Schönen denken, die sich meine Mom so gerne ansah. Da warfen die Kids ständig Champagner auf Boote und verpulverten in Nachtclubs an einem Abend mehr Kohle, als ich in einem Jah
r verdiente. Ivy Redmond war bestimmt genauso.
Ich seufzte. Meinen ersten Job hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt. Ich hatte mir in der IBA, der International Bodyguard Association, die Seele aus dem Leib trainiert. Hatte mir zweimal die Nase brechen lassen und insgesamt fünf Nasen zurückgebrochen. Plus/minus einen Arm. Aber das war ein Unfall gewesen. Als ich endlich meine Ausbildung in der Tasche gehabt hatte, kreisten meine Jobvorstellungen eher darum, wichtige Politiker zu beschützen. Nicht darum, verzogene Achtzehnjährige davon abzuhalten, sich mit einem Hundert-Dollar-Schein Koks durch die Nase zu ziehen.
»Hier steht, dass sie mit einem Pseudonym an der Universität eingeschrieben ist. Als Ivy Bennet. Wer hat sich denn diesen Scheiß ausgedacht?«
»Ich«, murrte Harry.
»War ja klar, du Fantasiebestie.« Lachend las ich weiter. »Sie ist allergisch gegen Sellerie, hat eine Hundehaarallergie und bekommt zudem extrem schnell einen Sonnenbrand, weshalb ich immer darauf achten muss, dass sie genügend Sonnenschutz verwendet. Harry, ernsthaft? Ich bin ihr Security, nicht ihr Babysitter!«
»Oh doch, mein Junge, genau das bist du. Dafür wirst du bezahlt und wenn da steht, dass du sie jeden Morgen aus dem Bett klopfen sollst, damit sie nicht ihre Vorlesungen verschläft, dann wirst du auch das machen. Steht auch alles im Kleingedruckten«, brummte Harry gutmütig und sah sich noch einmal in dem schmalen Wohnheimzimmer um, das wir soeben auf seine Sicherheit überprüft hatten.
Ich warf einen Blick auf das Kleingedruckte. Und tatsächlich, das stand da wirklich. Offensichtlich war Ivy Redmond ein Morgenmuffel.
Seufzend faltete ich die Akte zusammen und steckte sie mir so gut es ging in die hintere Hosentasche. Dann sah ich mich ebenfalls noch mal im Raum um. Das Zimmer war so gut wie leer. Die Matratze lag nackt auf dem Gitter des klapprigen Bettgestells. Der Schreibtisch sah einfach, aber zumindest solide aus. Langsam ging ich ans andere Ende, um die Fenster zu checken. Sie sahen genauso aus wie die in jedem anderen Zimmer des Wohnheims auch – jedoch mit dem Unterschied, dass diese hier kugelsicher waren. Quasi das Dormitory-Upgrade für Ivy Redmond. Ich bezweifelte allerdings, dass sie wusste, welche Extras ihr Daddy hatte einbauen lassen.