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Kiss Me Twice
Kiss Me Twice Read online
Originalausgabe
Als Ravensburger E-Book erschienen 2020
Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag
© 2020 Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg
Text © 2020 Stella Tack
Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de).
Umschlaggestaltung: unter Verwendung von Fotos von © piyaphong/Shutterstock; © Maram/Shutterstock und © MrVander/Shutterstock
Lektorat: Sarah Heidelberger (www.sarah-heidelberger.de)
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH
ISBN 978-3-473-51067-2
www.ravensburger.de
Für meine Tochter Aurora:
ein Mami-Glitzer-Buch nur für dich!
(Ich freue mich schon auf den Tag,
an dem du groß genug bist, um dieses Buch zu lesen,
dabei rot wirst und mich schrecklich peinlich findest.)
Silver
»Ich bin was?«
»Du bist gefeuert, Silver.«
»Wiederhol das bitte noch mal, Boss. Ich habe mich sicher verhört. Für mich hat das gerade danach geklungen, als hätte mich dieser Schnöselschwanz gefeuert.«
»Dass du deinen Klienten Schnöselschwanz nennst, könnte einer der Gründe sein, aus denen er dich gefeuert hat!«, bellte mein Chef.
Harry MacCain lehnte sich mit verschränkten Armen in seinem Sessel zurück. Das Kunstleder knarrte, während er mich streng musterte, und die Uhr an der Wand neben ihm tickte viel zu laut und anklagend. Ein Ventilator versetzte die künstliche Zimmerpflanze in hektisches Flattern. Mein Herz flatterte panisch mit. Nein, nein, nein! Ich durfte diesen Job nicht verlieren. Nicht schon wieder! Obwohl ich innerlich vor Panik durch den Raum rannte, zog ich von außen sichtbar nur meinen linken Mundwinkel herab. Wenn ich was draufhatte, dann das Resting Bitch Face. Tief atmete ich durch und hob den Blick von der ausgedruckten E-Mail, die Harry mir in die Hand gedrückt hatte. Nein, nein, nein!
Hinter Harry zog sich an der Gebäudeseite eine gläserne Wand entlang, durch die man einen Blick quer über Miami werfen konnte. Wie überall in der Stadt wurde alles von dichtem Verkehr eingeschlossen, während weiter hinten die Meeresbrandung gegen den Sandstrand schlug. Die Sonne brannte selbst durch das Fenster auf meiner Haut, und die Klimaanlage hatte Mühe, ein wenig kühle Luft zu erzeugen.
Ich starrte so lange auf das Gatorade-Werbeplakat an der Hauswand schräg gegenüber, bis ich mir sicher war, dass ich Harrys Zimmerpflanze nicht durchs Fenster pfeffern würde. Oder mich selbst.
»Und warum genau hat der Schnö…«, setzte ich an, und Harry zog warnend eine Augenbraue hoch, »… hat Mr Langton«, verbesserte ich mich, auch wenn der Name mehr wie ein Knurren klang, »mich rausgeschmissen?« Ich pustete mir eine lange Strähne meines beinahe weißen Haars aus dem Gesicht.
Harry seufzte, was ebenfalls eher wie ein Knurren klang. Auch wenn er nicht mein leiblicher Vater war, erinnerten mich Augenblicke wie dieser daran, dass Harry mich quasi großgezogen hatte. Und mit meinen knapp einsachtzig war ich auch wirklich groß geworden.
»Das hab ich Mr Langton auch gefragt«, sagte Harry und sah mich scharf an. »Und stell dir vor, sein Assistent hat mir daraufhin eine Beschwerdeliste gefaxt, die fünfzehn Seiten umfasst.«
Harry entknotete seine muskulösen Arme und schob mir eine graue Mappe über den gläsernen Schreibtisch zu. Ich schnappte mir das Ding, schlug es auf und starrte fassungslos hinein.
»Himmel, Harry! Er lässt dir so einen Bullshit faxen? Faxen?! Welcher normale Mensch macht denn so was noch? Hat der Typ keine E-Mail-Adresse?«
»Überbezahlte Assistenten von Schauspielern machen so was. Von Schauspielern, die es nebenbei nicht gut finden, wenn du ihnen die Nase brichst«, erwiderte er trocken, und für eine Sekunde glaubte ich, so etwas wie Amüsement in seinen grünen Augen aufblitzen zu sehen.
Ich blickte auf und wusste, dass ich dabei weder zerknirscht noch reumütig aussah, sondern verdammt noch mal stolz. »Der Kerl war sturzbetrunken und hat mir an den Hintern gegrapscht«, sagte ich. »Er kann froh sein, dass es nur seine Nase war, die ich getroffen hab.«
»Das hab ich ihm auch erklärt«, sagte Harry ruhig. »Was der einzige Grund dafür ist, dass du nur deinen Job verloren hast, anstatt zusätzlich eine Klage wegen Körperverletzung am Hals zu haben.«
»Klage? Dieser … Was? Ich atme zu laut? Harry, in diesem Wisch steht, dass er meine Atmung zu penetrant findet, wenn ich neben ihm stehe.« Fassungslos hielt ich ihm die Zettel unter die Nase und tippte auf Punkt 8.
»Ich weiß. Ich habe alle fünfzehn Seiten gelesen«, brummte Harry mit der Leidensmiene eines Mannes, der zu alt für diesen Scheiß war.
»Und hier steht …« Ich blätterte um und spürte, wie sich meine Nasenflügel blähten. »Auf Seite 9 steht: Miss Silvers Erscheinungsbild entspricht nicht den gewünschten Kriterien. Ich bin … zu groß?« Fassungslos sah ich auf. »Ich … was? Einfach nur was?«
»Er fand es wohl unangenehm, zu dir aufsehen zu müssen.« Harry wirkte beinahe, als würde er sich ein Lachen verkneifen.
Ich hätte es vielleicht ebenfalls witzig gefunden, wenn die Situation nicht so übelst real gewesen wäre.
»Harry!« Ich ließ die Zettel auf seinen Schreibtisch fallen und stützte die Handflächen rechts und links davon auf. Mein dicker Flechtzopf fiel mir dabei über die tätowierte Schulter. »Was kann ich denn für seine Komplexe? Bei allem Respekt, der Kerl ist der totale Widerling! Er war andauernd betrunken und hat das Personal wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Ich konnte doch nicht zulassen, dass er mich …«
»Natürlich konntest du das nicht, Silver«, unterbrach mich Harry. Ein warmer Ausdruck huschte durch seine Augen, aber zugleich bildete sich eine steile Falte zwischen seinen Brauen. »Ich hätte dich von Anfang an lieber woanders eingesetzt, aber er war zu diesem Zeitpunkt der einzige meiner Klienten, der einen weiblichen Bodyguard angefragt hat. Außerdem ist es bereits der zweite Job, den du innerhalb eines Jahres verloren hast, und … wie soll ich das sagen … die Leute wollen keinen …«
»… weiblichen Bodyguard«, beendete ich seinen Satz und spürte, wie sich in meinem Hals ruckartig etwas zusammenzog.
Harry seufzte. Der Straßenlärm unter uns drang durchs geschlossene Fenster, und irgendjemand hupte laut. Wahrscheinlich meine nicht existente Karriere, die gerade mit voller Wucht gegen die Wand krachte.
»Frauen sind in diesem Job schwer zu vermitteln, besonders wenn sie noch so jung sind wie du, Silver«, murmelte Harry und rieb sich die Stirn.
Besorgt beobachtete ich, wie er ein orangefarbenes Pillendöschen aus der Schublade seines Schreibtischs zog und drei Tabletten mit einem Schuck kaltem Kaffee hinunterspülte.
»Wird die Migräne schlimmer?«, erkundigte ich mich leise und richtete mich wieder auf.
Er winkte ab, schmiss jedoch noch zwei Tabletten nach. »Nicht der Rede wert. Es waren nur ein paar anstrengende Wochen.«
Skeptisch schürzte ich die Lippen. Seit ich Harry kannte – und das war im Grunde seit meiner Kindheit –, litt er schon unter Migräne. Vor allem schien es schlimmer zu sein, seit sein Sohn Ryan angeschossen worden war und sich in seine Klientin verliebt hatte. Nicht zwingend in dieser Reihenfolge.
Ryan! Ich ballte die Hände zu Fäusten und verschränkte die Arme vor der Brust. Noch so einer, mit dem ich ein Hühnchen zu rupfen hatte. Zumindest falls ich mich entschloss, wieder mit ihm zu sprechen. Seine letzten zwanzig Nachrichten hatte ich bisher unkommentiert gelassen. Was glaubte er denn? Dass ich ihm nur wegen eines Pandabären-Emojis mit verzeihungsheischenden Tränen in den Augen vergab, dass er ohne jedes Wort einfach nach Kanada abgehauen war? Ich hatte erst von Harry erfahren, was mit R
yan passiert war, nachdem ich meinen ersten Job in Las Vegas verloren hatte und nach Miami zurückgekehrt war.
Das kam davon, wenn man sich mit Kerlen wie Ryan MacCain befreundete. Sein Sandkuchen hatte damals grauenvoll geschmeckt! Das hätte mir eine Warnung sein sollen. Befreunde dich niemals mit einem Kerl, der nicht einmal einen Sandkuchen zustande bringt. Denn er wird dich fünfzehn Jahre später für ein Mädel hängen lassen.
»Silver, hörst du mir zu?«
»Nein«, gab ich ehrlich zu und blinzelte zu Harry hinüber.
Er sah mich streng an. »Interessiert dich, was ich zu sagen habe, oder tötest du lieber weiter meine Topfpflanze mit Blicken?«
»Verzeihung.« Ich räusperte mich und ließ die Arme wieder hängen. »Hast du einen neuen Job für mich?«, fragte ich leise und spürte den Stich der Enttäuschung und Frustration, als Harry den Kopf schüttelte.
»Ich werde mich umsehen. Bis dahin übernimmst du wieder das Training der Küken-Gruppe.«
»Was? Nein. Wieso?« Entsetzt starrte ich ihn an.
Harry massierte sich die Schläfen. »Betrachte es als Strafe, weil du einem Klienten die Nase eingeschlagen hast und ich sonst niemanden finde, der es freiwillig macht.«
»Nein, Harry! Bitte schick mich nicht wieder in diese Hölle.«
Mit wachsendem Entsetzen erinnerte ich mich an die grauenvollen Wochen vor sechs Monaten, als ich die Küken-Gruppe bereits einmal trainieren musste. Harrys Securityfirma bot neben der Ausbildung zum Bodyguard auch einige Programme für unter Zehnjährige an. Offiziell, um spielerisch erste Kampftechniken zur Selbstverteidigung zu lernen. Im Endeffekt rollten sich aber nur überzuckerte, aufgekratzte Grundschüler auf Turnmatten herum.
»Du schaffst das schon«, winkte Harry ab. »Meine Zwillinge sind schwer beeindruckt von dir. So begeistert sind sie sonst nur, wenn sie irgendwas in die Luft sprengen.«
Gequält verzog ich das Gesicht, als ich an Ryans Geschwister Sherly und Josh dachte. Die zwei waren Ausgeburten der Hölle. Sehr niedliche Ausgeburten, aber unbestritten aus der Hölle. Ryan und ich waren niemals so anstrengend gewesen … oder?
»Okay.« Ich seufzte.
Harry brummte zufrieden und schob mir wieder einen Zettel über den Tisch. Wo hatte er die nur immer so schnell her? »Hier ist dein Arbeitsplan. Ich melde mich, falls ein neuer Job für dich reinkommt.«
»Danke, Harry.« Zähneknirschend nahm ich den Plan entgegen und durchquerte das helle Büro.
»Ach, Silver, eins noch«, hielt mich Harry auf, als ich bereits dabei war, die Tür zu öffnen.
Mit erhobener Augenbraue drehte ich mich um.
»Wie geht es deinem Vater? Hast du was Neues von ihm gehört?«, fragte er sanft.
Mein Mundwinkel sank wieder hinab. Trotzdem antwortete ich ehrlich. Ehrlichkeit zählte zu den wenigen Dingen, die ich besaß und geben konnte.
»Nein. Das letzte Mal war vor drei Monaten. Da war er noch in Afghanistan stationiert, und es sah nicht so aus, als würde er dieses Jahr nach Hause kommen«, antwortete ich tonlos und war dankbar, dass sich nur mein Herz verkrampfte, die Tränen aber ausblieben. Ich hatte einfach keine mehr. Nicht für diesen Menschen. Schon lang nicht mehr.
Harry musterte mich ernst. »Du weißt, wenn du meine Hilfe brauchst, kannst du jederzeit zu uns zurückkommen, Silver. Mrs MacCain freut sich immer, wenn sie für dich kochen kann.«
Ein kaum merkliches Lächeln hob meinen Mundwinkel wieder an. »Danke. Aber ich komme sehr gut allein zurecht.«
»Ja, so warst du schon immer«, sagte Harry leise, aber sichtlich stolz.
Ich nickte und verließ sein Büro. Dabei tat ich so, als würde ich seinen besorgten Blick, der mir durch die Glastür folgte, nicht bemerken.
Silver
Völlig fertig ließ ich mich auf das billige Schlafsofa fallen und friemelte einen Chupa Chup aus meiner Hosentasche. Das Zeug war so süß, dass es einem beim Lutschen praktisch die Geschmacksknospen abtötete. Genüsslich biss ich in den Zuckerkörper und starrte an die Decke, an der nur eine nackte, tief hängende Glühbirne pendelte. Obwohl es bereits dunkel wurde, konnte ich nicht die Motivation aufbringen, das Licht einzuschalten. Draußen heulten Polizeisirenen, und wann immer die U-Bahn vorbeiratterte, bröckelte der Putz von der Decke. Morgens musste ich immer meine Kaffeetasse festhalten, damit sie mir nicht von dem Tischchen kippte, das ich mit alten Kinoplakaten beklebt hatte.
Ich ließ den Blick schweifen, von meiner dunkelroten Schlafcouch über die dünnen Wände, die ich im Lauf der vergangenen Jahre mit Bandpostern und alten Schwarz-Weiß-Horrorfilmplakaten verziert hatte. Es sah beinahe künstlerisch aus, obwohl ich eigentlich nur versucht hatte, die Wasserflecken zu überdecken. Neben dem Schlafsofa standen ein paar Regale, die ich aus alten Obstkisten zusammenschustert, mit schwarzer Farbe angesprüht und sorgfältig mit meiner DVD- und Kassettensammlung befüllt hatte. Allesamt Klassiker, angefangen von The Munsters über Psycho und Die Nacht der lebenden Toten bis hin zu Die Vögel. Das Ganze hatte ich mit ein paar Lichterketten aufzuhübschen versucht. Mein persönliches Schmuckstück war jedoch der alte Fernseher aus den Siebzigern, ein uralter Kasten mit brauner Holzvinylverkleidung. Wenn ich umschalten wollte, musste ich aufstehen und einen der vier weißen Knöpfe drücken. Die abstehenden Antennen sahen ein bisschen so aus wie von einem Alienraumschiff.
Das einzig wirklich Lebendige in diesem Raum war Mr Hyde, mein Kaktus. Ich hatte ihn von Ryan geschenkt bekommen, als ich mit zwölf unser gemeinsames Schulprojekt getötet hatte. Also die Sonnenblume, die wir hätten züchten sollen. Alles Grüne, was ich anfasste, starb innerhalb von wenigen Tagen. Ryan hatte mir den Kaktus damals mit den Worten übergeben: Der Kaktus ist wie du. Stachlig, aber unverwüstlich. Ihr werdet euch mögen.
Tja, wir mochten uns. Mr Hyde war das Einzige, was nicht einging, und zweimal im Jahr blühte er sogar. Schwere rosarote Knospen, die den etwas feuchten Geruch der Wohnung mit einem angenehmen Duft verdeckten. Mr Hyde hätte allerdings schon vor Wochen blühen sollen, doch er schien derzeit genauso zu bocken wie mein restliches Leben. Ich gab ihm zu trinken, drohte ihm, stellte ihn in die Sonne, dann wieder in den Schatten, schmollte ihn an, und trotzdem blühte er nicht.
Ich seufzte. Im Grunde war meine Wohnung eine einzige Bruchbude. Aber es war meine Bruchbude. Ich finanzierte diese vier dünnen Wände, seit ich mit sechzehn endlich bei meiner Tante ausgezogen war. Seitdem hatte ich mich neben der Highschool und meiner Ausbildung mit Kellnerinnen- und Babysitterjobs bei Sherly und Josh über Wasser gehalten. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ich mehr bei den MacCains gewohnt als bei meiner charakterschwachen Tante und ihren ständig betrunkenen und wechselnden Kerlen.
Ich schnaubte, stand auf und drückte den Knopf meines Alienfernsehers. Die Röhren summten, das Bild flimmerte, und die letzte Kassette, die ich in den Videorekorder der ersten Stunde eingelegt hatte, begann abzuspielen. Der Unsichtbare. Ich ließ mich aufs Sofa zurückfallen und versuchte angestrengt, die Gedanken zurückzudrängen, die in mir hochkrochen, doch …
Fuck! Ich war wirklich neben der Spur. Ich schloss meine brennenden Augen und spürte, wie sich die Gedanken über meinen Vater einschlichen. Oft schaffte ich es, sie zu verdrängen, ihn zu verdrängen. Doch Harrys Frage nagte an mir. Mein Vater fiel mir immer dann ein, wenn ich es am wenigsten gebrauchen konnte. Wie ein Echo, das manchmal laut, manchmal leise in mir nachhallte. Auch ich hatte einen Unsichtbaren in meinem Leben: meinen Vater. Obwohl er noch lebte, noch existierte, sah ich ihn nicht. Nie.
Ich versuchte, ihm keinen Vorwurf daraus zu machen, dass er mich mit Tante Merryl alleingelassen hatte. Ich wusste, dass er glaubte, keine andere Wahl gehabt zu haben, aber … ich war mir trotzdem sicher, dass er sich anders hätte entscheiden können. Er und Harry kannten sich noch aus der Militärausbildung. Beide hatten zusammen fünf Jahre Militärdienst geleistet, bis Harry seine Securityfirma aufgemacht hatte. Mein Vater war dagegen beim Militär geblieben.
Während ich den Lolli zerbiss, krümmten sich meine Finger und fuhren in die Sofarille,
wo ich auf ein gefaltetes Foto stieß. Langsam zog ich es heraus. Es war so oft gefaltet worden, dass sich die feinen Knicke wie Spinnweben durch das alte Papier zogen. Die Ränder waren abgestoßen und zerfranst. Das Schwarz-Weiß-Bild meines Fernsehers flackerte hell, sodass ich die drei Gesichter sehen konnte, die mir glücklich aus dem Foto entgegenlächelten: mein Vater in seiner Militäruniform, meine Mom mit ihren langen, beinahe weißen Haaren und ich mit einer Zahnlücke, wo eigentlich der rechte Schneidezahn hätte sein sollen, den ich beim Rollerfahren verloren hatte.
Das Foto war im Sommer an meinem vierten Geburtstag aufgenommen worden. Im Dezember desselben Jahres war meine Mom an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Mein Dad war damals schon viel fort gewesen, doch seitdem kam er fast gar nicht mehr nach Hause. Er war schlichtweg überfordert mit sich selbst, dem Verlust seiner Frau, der Welt und einer weinenden Vierjährigen gewesen. Er hatte mich zu Tante Merryl gebracht. Tante Merryl, die ein Talent dafür hatte, ihre Jobs zu verlieren und einen miesen Kerl nach dem anderen anzuschleppen. Das Unterhaltsgeld, das mein Vater schickte, bekam ich nie zu sehen. Tante Merryl war kein schlechter Mensch, aber sie war unglaublich schwach. Zu schwach, um sich selbst oder gar ihre Nichte vor der Welt beschützen zu können. Also war ich eben stark geworden. Stärker als sie, stärker als mein Vater.
Meine Finger ballten sich um das Foto, quetschten es zusammen, sodass das Lächeln meiner Mom Wellen schlug. Ich stopfte es zurück in die Sofaritze. Das war echt alles für den Arsch. Jetzt musste ich auch noch einen neuen Job finden. Sah ganz so aus, als ob Tante Merryls Einfluss doch auf mich abfärbte.
»Komm schon, Silver, reiß dich zusammen«, knurrte ich mir selbst zu und nahm den Lollistiel aus dem Mund. Entschlossen stapfte ich in die Miniküchenzeile, die eigentlich nur aus Schrank, Gasherd und einem geschrumpften blauen Kühlschrank bestand, den ich liebevoll »Schlumpfi« nannte. Eine Diele knackte und hob sich leicht an. Das Gefühl war beruhigend. Unter dieser Diele befand sich eine Spardose, und in der war mein Gehalt von beinahe zwei Jahren. Jetzt musste ich nur noch einen neuen Job finden und ein weiteres Jahr arbeiten, dann konnte ich all die Schulden zurückzahlen, die sich während meiner Ausbildung bei Harry angesammelt hatten. Ich hatte es fast schon geschafft. Und würde es ganz schaffen. Komme, was da wolle. Es musste einfach nur ein neuer Job her.