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Kiss Me Twice Page 9


  »Wo ist mein verdammtes Jackett?«, rief er und rannte den Flur hinab.

  »Und wo ist dein linker Socken?«, ergänzte ich.

  Im Flur krachte es, und Ryan fluchte.

  Ivy kicherte. »In der Uni hat er mich immer fertiggemacht, wenn ich zu spät dran war«, flüsterte sie mir zu. »Ich glaub, ich bin ansteckend.«

  Mein Mundwinkel zuckte amüsiert, während Ryan mit nur einem Schuh an uns vorbeilief. Die Krawatte fehlte auf einmal, dafür schien er das Jackett gefunden zu haben.

  »Mädels! Wenn ihr was futtern wollt, solltet ihr aufhören zu glotzen und euch auch anziehen«, motzte er uns an.

  »Klar«, sagte ich und rührte mich nicht vom Fleck.

  »Sind fast fertig«, ergänzte Ivy und legte den Kopf schief, als sich Ryan bückte und unter dem Sofa wühlte.

  »Was hat die Gatorade hier unten zu suchen?«, blaffte er.

  »Notfallvorrat?«, antworte Ivy und zuckte unschuldig mit den Schultern, als Ryan mit einem roten Socken wieder auftauchte.

  Frustriert pustete er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Silver, ich zahl dir dreißig Mäuse, wenn du unsere Wohnung aufräumst«, sagte er gequält.

  »Steck dir deine Kanadischen Dollar sonst wohin, dafür kann ich mir höchstens einen Kaffee kaufen«, antwortete ich spöttisch und begann, mich ebenfalls fertig zu machen. Für einen Clubbesuch war ich eigentlich immer passend gekleidet. Schwarze Hose, schwarzes Shirt. Jetzt zog ich nur noch meine dunkle Lederjacke über und öffnete die Haare, während Ivy Ryan half, die Krawatte zu binden, die er vorher offenbar in der Hosentasche verstaut hatte.

  »Jetzt schnell!«, brüllte Ryan und rannte zur Tür.

  »Ich bringe ihm noch seinen zweiten Schuh. Spätestens draußen wird er ihn vermissen«, ließ ich Ivy wissen, die selbst noch mit ihren Stiefeln kämpfte.

  Fünf Minuten später saßen wir alle im Auto. Ivy und Ryan brüllten sich an, weil Ryan vergessen hatte zu tanken. Er knirschte mit den Zähnen, während er auf die Uhr starrte.

  »Der Boss wird mir so was von den Arsch aufreißen.«

  Irgendwie schaffte er es, noch den letzten Tropfen Sprit aus dem Auto zu wringen. Am Ende waren wir aber trotzdem dreißig Minuten zu spät, und ich sah zum ersten Mal, wofür mein bester Freund seine Karriere als Bodyguard aufgegeben hatte. Zugegeben, Ivy war es wert, aber das hier?

  Es handelte sich um ein altes Fabrikgebäude am Hafen. Die roten Ziegel waren mit Graffiti besprüht, die Scheiben milchig angelaufen und zusätzlich mit schwarzem Gitter verrammelt. Das Einzige, was auf einen echten Nachtclub hinwies, war die riesige Schlange von Menschen, die vor einer schwarzen Doppeltür ungeduldig auf Einlass warteten.

  »Das ist es?«, fragte ich irritiert und starrte auf das Gebäude.

  »Es sieht von innen besser aus als von außen«, versicherte mir Ivy, während wir auf den Laden zusteuerten. »Das Kiss Me Twice ist der größte Laden in Vancouver.«

  »Das soll groß sein? Und ist es nicht ein bisschen früh für einen Club?«, fragte ich ungläubig. Mittlerweile war es einundzwanzig Uhr, und die Leute standen bereits Schlange. In Miami machten die meisten Clubs vor Mitternacht gar nicht erst auf.

  Ivy grinste: »Für amerikanische Standards ist alles in Kanada klein, und der Club macht immer recht früh auf. Wer vor neunzehn Uhr reinkommt, muss nur den halben Eintritt zahlen, und außerdem gibt es einen Hangover-Burger gratis obendrauf. Find ich charmant. Du nicht?«

  »Hm …«, brummte ich nur.

  Trotz des Sommers war es in Vancouver abends so scheißkalt, dass mir weiße Atemwolken vor dem Mund standen. Ivy bibberte bereits, obwohl sie Schal und Mütze trug. Selbst Ryan streifte sich ein Paar schwarze Handschuhe über, denen er die Fingerspitzen abgeschnitten hatte. Ich versuchte, eine coole Miene zu ziehen, obwohl mir langsam die Zehen einfroren. Wir drei waren definitiv wärmeres Klima gewöhnt. Ryan steuerte auf die Türen zu, vor denen bereits ein Bodyguard im schwarzen Anzug stand und eine Augenbraue hochzog, als unser Trio angetrabt kam.

  »Alter, Ryan, kann es sein, dass du ein wenig spät dran bist?«, fragte der Türsteher belustigt.

  Ryan verzog entschuldigend das Gesicht. »Sorry, Mitch! Hat der Boss Wind davon bekommen?«

  Er sah so panisch aus, dass ich mich besorgt zu Ivy hinabbeugte, um nachzufragen, ob sein Boss so übel war, wie es klang. Doch da schwangen auch schon die Doppeltüren auf. Dröhnende Technomusik drang zusammen mit einem Schwall aus Zigarettenqualm und süßem Cocktailgeruch nach draußen.

  »Na, sieh mal einer an, wer endlich seinen Knackarsch auf der Arbeit sehen lässt«, schnurrte eine unglaublich rauchige Stimme.

  Im Türrahmen lehnte eine Frau, die über zwei Meter groß sein musste. Ihr muskulöser Körper steckte in einem silbernen Paillettenkleid. Eine rosarote Federboa schlang sich um ihren Hals und verbarg eher dürftig den Adamsapfel, während eine rosa Perücke samt wippender Feder ihr kantiges Gesicht umspielte. Ryan erstarrte, Ivy grinste, und mir klappte die Kinnlade herunter.

  »Georgette«, sagte Ryan und fuhr sich verlegen durch die Haare. »Ich bin … ähm … hier … Boss.«

  »Das sehe ich, Schätzchen, und ich freue mich immer, wenn du mich mit deiner Anwesenheit beehrst. Aber eine halbe Stunde früher hätte ich mich noch mehr gefreut«, erwiderte Georgette trocken.

  »Sorry, kommt nicht wieder vor«, beteuerte Ryan und setzte seinen Hundedackelblick auf.

  Georgette seufzte und beugte sich zu Ivy hinunter, um sie fest an ihren Busen zu drücken. »Das will ich auch hoffen. Das nächste Mal darfst du sonst Wachdienst auf den Toiletten schieben. Ivy, meine Zuckertüte, schön, dich zu sehen.«

  »Hey, Georgette«, murmelte Ivy in den Busen hinein und lächelte zu ihr hoch. »Habt ihr noch Burger?«

  Georgette kicherte tief. »Süße! Wir haben so viele Burger für dich, dass wir damit sogar die grottenschlechten DJs bewerfen können, die da drinnen meine Ohren mit ihrem Krach zumüllen. Von wegen internationale Stars. Für’n Arsch sind die. Die zwei sind so grün hinter den Ohren, dass ich sie am liebsten gießen würde, damit sie wachsen. Aber lassen wir das. Ryan … wer ist diese Amazone in Wasserstoffblond da?« Georgettes Blick landete auf mir, und ich erinnerte mich endlich daran, höflich zu sein und ihr die Hand hinzustrecken.

  »Ich bin Silver. Freut mich sehr«, stellte ich mich vor.

  »Sie ist meine beste Freundin. Wir haben die Ausbildung zusammen absolviert«, ergänzte Ryan und steckte sich einen schwarzen Knopf ins Ohr, während er sich an der Tür positionierte.

  »Ein weiblicher Bodyguard? Wie aufregend«, rief Georgette, schnappte sich meine Hand und zog mich so ruckartig an sich, dass ich die pinken Kontaktlinsen erkennen konnte, durch die sie mich forsch musterte.

  Fasziniert starrte ich zurück, und über Georgettes Gesicht huschte ein weicher Ausdruck. »Ich habe ein Faible für kleine Vögelchen, die aus dem Nest gefallen sind. Vielleicht nehme ich ja jetzt auch mal ein Wildkätzchen auf«, sagte sie.

  Irritiert blinzelte ich sie an, doch sie fuhr ungerührt fort: »Wie auch immer, was stehen wir hier draußen rum und lassen uns vom Pöbel anglotzen? Kommt rein, ihr Süßen, kommt rein. Essen wir lieber Burger und schmachten den neuen Barkeeper an. Er sieht ein wenig aus wie Prinz Prescot. Kein Vergleich natürlich zu dem gottgleichen Sahnetörtchen, das jetzt die kalten Gletscher Kanadas zum Schmelzen bringt, aber entzückend, ohne jede Frage«, schwärmte sie. »Und wenn uns danach langweilig wird, bewerfen wir die DJs mit Cocktailschirmen. 2g4u, dass ich nicht lache. ›Too schmerzhaft for your Ohren‹ würde besser passen.«

  Verdutzt wurde ich gepackt und zusammen mit Ivy in den Club gezogen. Ryan winkte uns fröhlich nach, während er ein wartendes Pärchen in der Schlange nach vorn winkte und die Ausweise checkte.

  Als die Tür hinter uns zuschlug, verschluckte uns das Kiss Me Twice mit Haut und Haaren.

  Prescot

  »Wo ist deine Cousine Evangeline?«

  »Keine Ahnung.«

  »Wir sind schon spät dran.« Dad s
ah so gestresst auf die Uhr, dass seine Geheimratsecken prompt noch eckiger wurden.

  »Ich schau mal in ihrem Zimmer nach. Vielleicht hat sie ja Probleme mit ihrem Kleid oder so«, versuchte ich ihn zu beruhigen und kehrte noch einmal ins Stadtpalais zurück.

  Meine Schritte quietschten in den italienischen Lederschuhen, während mir die zu meinem Anzug passende dunkelblaue Krawatte den Atem abdrückte. Wir waren bereits zu spät zum Konzert. Zumindest Dad musste dort noch in letzter Sekunde auftauchen. Käme er nicht, würden wir damit halb Kanada beleidigen und die Presse uns voller Schadenfreude zerfleischen.

  Mit jedem Schritt bemerkte ich, wie ich wütender auf Evangeline wurde. Wenn sie diese Scheiße hier absichtlich abzog, um meinen Dad schlecht dastehen zu lassen, dann …

  »Eve?«

  Ich riss die Tür zu ihrem Zimmer auf. Nichts. Weder sie noch Sir Henry, der mich normalerweise vom Bett aus anörgste. Ich friemelte mein Handy aus der Hosentasche und wählte ihre Nummer. Auch nichts. Frustriert drehte ich mich um und wäre beinahe mit Carla zusammengestoßen, die vor Schreck einen Satz nach hinten machte.

  »Verdammt, Carla! Du schleichst ja rum wie ein Ninja. Ich sollte dir ein Glöckchen umhängen«, stieß ich hervor.

  »Mr Prescot«, stieß sie ebenfalls erschrocken hervor. »Warum …«

  »Hast du eine Ahnung, wo Evangeline steckt?«, fuhr ich sie schärfer an als beabsichtigt.

  Carlas Augen wurden groß. »Ihre Cousine ist bereits vor einer halben Stunde nach unten gegangen. Sie meinte, sie würde dort auf Sie warten.«

  »Unten ist sie aber nicht.« Frustriert fuhr ich mir durchs Haar. »Hast du eine Ahnung, wo sie hingegangen sein könnte?«

  Carla biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf, ehe sie plötzlich zögerte. »Nein, aber wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf …«

  »Ich bitte darum.«

  Ein Glitzern huschte durch ihre grauen Augen. »Ihre Cousine ist noch jung. Soweit ich weiß, sind junge Menschen sehr aktiv auf Social Media. Falls es einen Hinweis über ihren aktuellen Aufenthaltsort zu finden gibt, dann ist dort die Wahrscheinlichkeit am größten.«

  Ich starrte sie an, während ich bereits mein Handy zückte. »Du bist ein Genie, Carla«, stieß ich hervor, während ich fieberhaft auf das Display eintippte. Wie hieß noch mal diese dumme App, die sie mir gezeigt hatte? Royal-Dingsbums?

  »Royal-It«, flüsterte Carla mir zu.

  »Danke.« Ich öffnete die App, gab Eves Namen ein und starrte auf die aktuellen Bilder. Sie hatte vor knapp fünf Minuten eines gepostet. Sich selbst in einem knappen Silberfummel, dahinter ein schlichtes, altes, mit Graffiti besprühtes Fabrikgebäude. Darunter stand: KM2!

  »Sie ist im Club«, knurrte ich entsetzt und sah auf.

  Carla sah mich beinahe schon entschuldigend an. »Ich wusste nicht, was sie vorhat«, beteuerte sie.

  »Das glaube ich dir. Trotzdem muss ich Eve jetzt da rausholen, bevor sie den nächsten Skandal lostritt. Carla, sag meinem Vater, er soll mit meinen Schwestern losfahren. Er braucht sich keine Sorgen zu machen. Ich versuche, mit Eve nachzukommen«, wies ich sie an, während ich mir bereits das Jackett von den Schultern riss.

  Das Dienstmädchen starrte mich an. »Was haben Sie vor?«

  »Was wohl? Meine Cousine und unseren Ruf retten«, sagte ich und stürmte in mein eigenes Zimmer davon.

  »Aber …«

  »Sag meinem Dad Bescheid. Und ruf mir ein Taxi. Am besten, ohne dass die Bodyguards Wind davon bekommen. Bestell es zwei Querstraßen weiter. Ach, und Carla …« Ich drehte mich um und sah ihr tief in die Augen. »Ich verlass mich auf deine Verschwiegenheit«, sagte ich ernst. »Du bist neben meiner Familie die Einzige, der ich in diesem Irrenhaus hier vertraue.«

  Carla lächelte, während sich eine zarte Röte auf ihre Wangen stahl und ich mich zum ersten Mal fragte, wie alt Carla eigentlich war. Es kam mir vor, als würde ich sie seit meiner Kindheit kennen. Durch den strengen Bob und die Uniform sah sie nur deutlich älter aus als ich. Doch wenn sie lächelte wie jetzt, hätte sie genauso gut Anfang zwanzig sein können.

  »Ich werde Sie nicht enttäuschen«, beteuerte sie schlicht und verschwand mit knisternder Schürze nach unten.

  Ich atmete tief ein, um meinen Puls zu beruhigen, ging in mein Zimmer, schlüpfte in eine zerrissene Jeans und ein altes T-Shirt und zog mir das Käppi meiner alten Universität in die Stirn. Nach kurzem Zögern warf ich mir auch noch den Hoodie von Silver über. Er spannte ein wenig an den Schultern, trotzdem hatte ich das Gefühl, ruhiger zu werden, wenn ich ihren schwachen Duft nach Kokosshampoo einatmete. Als würde sie neben mir stehen und mir mit ruhiger und klarer Stimme Anweisungen geben.

  »Also los, Scotty. Retten wir unseren Familienruf«, murmelte ich mir selbst Mut zu und öffnete mein Fenster.

  Mein Zimmer befand sich im ersten Stock. Rausspringen war ein wenig riskant, aber mit etwas Raffinesse durchaus zu schaffen. Ich hatte meine gesamte Kindheit und Jugend im Internat verbracht. Dort hatte das Aus-dem-Fenster-Klettern beinahe zu meiner täglichen Routine gehört. Erst aus meinem hinaus, danach in das eines der Mädchen hinein. Hin und wieder auch, um einen Joint auf dem Dach zu rauchen oder um mich auf eine Party zu schleichen. Doch irgendwann war mir der ganze Blödsinn langweilig geworden, und was früher spielerische Routine, ein kleiner Kick für zwischendurch gewesen war, bereitete mir gerade etwas Muffensausen. Hieß das, dass ich langsam alt wurde?

  Tja, es half alles nichts. Wenn ich einfach durch den Haupt- oder den Hinterausgang spazierte, hätte mich die Security sofort bemerkt und darauf bestanden, mich zu begleiten. Wenn ich ablehnte, hätten sie mich trotzdem verfolgt, daran bestand kein Zweifel. Ich biss also die Zähne zusammen, spannte die Muskeln an und sprang. Der Aufprall auf dem weichen Rasen vibrierte dumpf durch meine Knochen. Aber ich stand noch! Manche Skills verlor man dann wohl doch nicht.

  Das Palais lag zu meinem Glück mitten in der Stadt. Ich stand praktisch auf offener Straße. Trotzdem hörte ich das Surren der Überwachungskameras, die mich sofort anvisierten. Jetzt musste ich mich sputen. Ich rannte zwei Querstraßen hinunter und achtete dabei darauf, immer im Schatten zu bleiben.

  Der kühle Wind Kanadas wehte mir ein paar Haare in die Stirn. Vancouver war wirklich wunderschön. Zu einer Seite das Meer, zur anderen das Gebirge mit seinen schneebedeckten Spitzen. Ich hätte den Anblick jedoch noch mehr genossen, wenn ich nicht so was wie auf Fahnenflucht gewesen wäre. Scheiße. Eine kriminelle Karriere kam für mich wirklich nicht infrage. Ich wäre vor Angst gestorben. Dementsprechend erleichtert sah ich die Scheinwerfer eines Taxis, das tatsächlich auf mich zusteuerte. Ich winkte es heran und schmiss mich hinein.

  »Zum Kiss Me Twice«, gab ich knapp durch.

  Der Fahrer nickte und fuhr los, sobald ich die Tür zuzog. Im Radio lief eine Liveübertragung des Konzerts. »Soeben fährt die königliche Limousine ein …«, säuselte der Nachrichtensprecher blasiert.

  »Gott sei Dank«, murmelte ich.

  »Soll ich lauter drehen?«, fragte der Fahrer höflich.

  Ich lächelte ihn verhalten an. »Nein danke, alles gut. Sie können mich übrigens am Fluss rauslassen«, warf ich ein. Es war unauffälliger, wenn ich die letzten paar Meter ging, anstatt mich wie ein blasierter VIP genau vor die Tür kutschieren zu lassen. Zumindest hoffte ich das.

  »Sicher? Bis zum Club ist es noch ein Stückchen.«

  »Schon gut. Ich laufe«, entschied ich.

  »Wie Sie wollen«, murmelte der Taxifahrer, und ich drückte ihm als Entschädigung das doppelte Trinkgeld in die Hand.

  Als ich ausstieg, schlug mir sofort wieder ein kalter Wind vom Meer entgegen. Frierend zog ich mir die Kappe tiefer ins Gesicht und ging auf den Club zu. Es war eine ganze Weile her, seit ich zum letzten Mal hier gewesen war. Man sollte meinen, sobald man ins College kam, ging die Party erst richtig los. Bei mir hatte sie kurz später durch den Tod meines Großvaters geendet. Und irgendwie war ich auch froh darüber. Ich hatte damals viele dumme Dinge angestellt, so viele dumme Din
ge, dass ich manchmal das Gefühl hatte, als würde mir die Vergangenheit noch wie ein hässlicher schwarzer Schatten folgen. Im Nachhinein war es mir manchmal schleierhaft und grenzte beinahe an ein Wunder, dass ich mich selbst überlebt hatte.

  In mir ballte sich etwas zusammen, als eine Erinnerung aufstieg, wie ich wegen einer Wette sturzbetrunken in der Gasse gelegen hatte. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Helena mich nicht gefunden hatte. Nein … halt, stopp! Tief holte ich Luft und riss mich zusammen.

  Trotzdem wäre es mir lieber gewesen, Eve nicht ausgerechnet hier suchen zu müssen. Das Kiss Me Twice war nicht einfach irgendein Club. Wer in Kanada sehen und gesehen werden wollte, ging hier rein, und ich hatte schon immer einen guten Draht zu Georgette gehabt.

  Meine Familie hatte sich zeit meines Lebens viel in Vancouver aufgehalten. Doch selten war es wirklich friedlich bei uns zugegangen. Der ewige Zoff mit Onkel Oscar, dazu noch meine Mutter, die ab und zu wieder auf der Bildfläche erschien, um uns zu tyrannisieren, und dann natürlich die politische Lage hatten bei uns für ständige Spannungen gesorgt.

  Dabei hatte es Spannungen doch ohnehin bereits genug in mir gegeben. Manchmal hatte es sich angefühlt, als hätte ich in den Sommerferien die eine Hölle verlassen, um in eine andere zu fallen. Ständig war ich auf der Flucht, vor dem Internat, vor unseren familiären Problemen, vor mir selbst.

  Georgette war für mich in dieser Zeit ein Fels in der Brandung gewesen. Sie war eine gute Bekannte meiner Mom und hatte mich unter ihre Fittiche genommen, als Mom uns damals verließ. Das Kiss Me Twice war dadurch zeitweise so was wie mein zweites Zuhause gewesen.

  Die letzten Meter wurden bereits von der enorm langen Schlange verstellt, die sich wie jeden Abend vor dem Club gebildet hatte. Ich ging daran vorbei, was mir ein paar wütende Blicke einbrachte, die ich aber getrost ignorierte. Der Türsteher Mitch kannte mich. Ich stand auf der Dauergästeliste, entsprechend sollte es kein Problem sein, hineinzukommen. Doch als ich die Türen erreichte, stieß ich auf einen fremden Bodyguard, der gerade ein paar kichernde Mädchen durchwinkte. Der Security konnte kaum älter als ich selbst sein. Wenn überhaupt. Im dunklen Schatten meiner Kappe verdrehte ich die Augen. Georgette war wirklich mit jedem schiefen Bad-Boy-Lächeln weich zu kriegen. Kein Wunder, dass sich hier Minderjährige so leicht einschleichen konnten, wenn selbst die Securitys noch keinen anständigen Bartwuchs hatten.