Kiss Me Twice Page 11
»Sei’s drum. Nächstes Mal versuch bitte, nicht so einen Wirbel zu veranstalten, Scottylein, das verkraftet mein armes Herz nicht mehr. Und mein Geruchssinn ebensowenig.« Sie rümpfte die Nase in Evangelines Richtung, die noch nach Erbrochenem roch und nun leise zu schnarchen begann.
»Ich hab versucht, unauffällig zu sein«, murrte Prescot.
Georgette seufzte. »Unauffällig war noch nie deine Stärke, Darling«, gab sie zurück, ehe ihr Blick ein wenig weicher wurde. Mit klackernden Absätzen ging sie auf Prescot zu und streichelte ihm über die Wange. »Schön, dich endlich mal wieder zu sehen. Ich hab mir Sorgen um dich gemacht. Du siehst müde aus.«
Er lächelte schief. »Das bin ich auch, aber ich geb mein Bestes.«
»Das hast du schon immer, meine braver, schlimmer Junge. Ich habe deiner Mom damals versprochen, ein Auge auf dich zu haben, und ich halte meine Versprechen. Wenn du was brauchst, kommst du sofort zu mir, verstanden?«
Seine Mom? Was wohl mit ihr passiert sein mochte, dass Prescots Augen bei ihrer Erwähnung grau wie Regenwolken wurden?
»Ich komm schon klar«, brummte er.
Georgette seufzte. »Warum bezweifle ich das nur? Aber so wie es aussieht, passt ohnehin schon jemand anders auf dich auf.« Schmunzelnd drehte sie sich zu mir herum. »Ich muss wieder rein. Silver, Süße, würdest du den beiden noch helfen, heil nach Hause zu kommen?«
»Natürlich«, sagte ich, ohne zu zögern. »Gibst du Ryan Bescheid, dass er nicht auf mich zu warten braucht? Wir sehen uns in seiner Wohnung.«
»Immer doch. Passt auf euch auf.«
Sie gab Prescot ein Küsschen auf die Wange, zwinkerte mir zu und verschwand in den Club zurück. Der herausdringende Trubel im Inneren schnitt kurz eine zuckende Lichtschneise durch die Gasse, ehe es wieder dunkel wurde.
Prescot seufzte und lehnte sich an die Mauer. »Du musst mich nicht begleiten, Silver. Du hast mehr als genug getan.«
»Ich begleite euch, bis ihr sicher zu Hause seid«, entschied ich schlicht und lehnte mich neben ihn.
»Zu Hause.« Seine Mundwinkel zuckten. »Ich weiß gar nicht mehr, wo das eigentlich ist«, murmelte er und warf mir einen Blick aus halbgeschlossen Augen zu.
Georgette hatte recht. Er sah müde und abgekämpft aus, was ihn jedoch irritierenderweise noch anziehender wirken ließ. Wie ein Riss in einer perfekten Hülle, der den Anblick nur noch interessanter machte. Es hob die Schärfe seiner Wangenknochen hervor, ließ seine Lippen voller wirken und … Erst als der Lichtkegel eines Scheinwerfers auf uns fiel, merkte ich, dass ich mich viel zu nah an ihn gelehnt hatte. Erschreckt zuckte ich zusammen und beeilte mich, die Tür des gerade angekommenen Taxis aufzumachen. Prescot hievte seine Cousine auf den Rücksitz, und gerade als ich mich nach vorn auf den Beifahrersitz setzen wollte, hielt mich Prescot auf.
»Setz dich neben mich.« Er sah mich fest an. »Bitte.«
»Okay, wie du willst«, sagte ich, drückte die Beifahrertür wieder zu und rutschte stattdessen zu Prescot auf die Rückbank. Beinahe fühlte ich mich unwohl, als würde ich mich auf einen Platz setzen, an den ich nicht gehörte.
»Wohin?«, erkundigte sich der Fahrer, und Prescot gab ihm eine Adresse durch.
Als wir losfuhren und um die Ecke kamen, stieß ich einen Fluch aus, während Prescot tiefer in den Sitz hineinrutschte. Eine Horde von Paparazzi stand vor dem Club.
»Tja, ich glaube, ich kenne die morgige Schlagzeile«, sagte Prescot und seufzte.
Evangeline schnarchte leise an seiner Brust und wirkte so unschuldig, als hätte sie nicht gerade eine absolute Katastrophe verursacht.
Prescot guckte gleichzeitig wütend und liebevoll auf sie herab, während er ihr die Haare zurückstrich. Sie roch immer noch nach Erbrochenem, sodass der Taxifahrer unauffällig die Fensterscheiben herunterließ.
»Danke, Silver«, murmelte Prescot plötzlich.
Verwundert wandte ich den Kopf. »Wofür?«
»Du hast mir schon wieder den Arsch gerettet. Einfach so.«
»Da gibt es nichts zu danken. Eine Schlagzeile wirst du trotzdem bekommen.«
Doch Prescot schüttelte den Kopf. »Die Katastrophe war ohnehin nicht abzuwenden, nicht bei so vielen Leuten. Aber ohne dich wär’s wahrscheinlich noch schlimmer ausgegangen. Du bist mein Schutzengel.« Er schmunzelte, und ich kaschierte meine Verlegenheit, indem ich die Augen verdrehte.
»Ich bin kein Engel. Mir hat das Leben schon vor langer Zeit die Flügel ausgerissen. Eigentlich besteh ich nur noch aus Narben, die mich notdürftig zusammenhalten«, sagte ich leise, und wir starrten uns an.
Die Lichter der vorbeiflitzenden Laternen malten Lichtreflexe in sein Gesicht. »Es sind schöne Narben«, flüsterte er.
Ich schwieg, weil ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte. Allem voran glaubte ich nicht, dass er mich wirklich verstanden hatte. Aber wie sollte er auch? Wir waren Fremde. Zugegebenermaßen Fremde, die sich neuerdings öfter über den Weg liefen, aber sobald Prescot aus diesem Taxi ausstieg, würde ich ihn nie wiedersehen. Außer vielleicht im Fernsehen. Und dort gehörte er auch hin. Weit weg von mir, in eine Welt, in der Narben schön sein konnten. Ich lächelte bitter.
Prescot rutschte unruhig herum. »Hab ich was Falsches gesagt?«, platzte es aus ihm heraus.
Verwundert blinzelte ich ihn an. »Wie kommst du darauf?«
»Weil du so aussiehst, als hätte ich was Falsches gesagt«, erklärte er und zuckte hilflos mit den Schultern.
»Ich … nein, hast du nicht. Ich schaue immer so. Man nennt das Resting Bitch Face«, scherzte ich.
»Man nennt es Schmerz«, korrigierte er mich sanft. »Damit kenne ich mich aus. Ich sehe den Blick jeden Tag im Spiegel. Ich sehe es in den Augen meiner Schwestern und manchmal auch bei meinem Vater. Es tut mir leid, falls ich …« Er brach ab, als sich unsere Blicke kreuzten, sich ineinander verhakten und nicht mehr losließen.
»Entschuldige, aber was weiß ein Prinz schon über echten Schmerz?«, fragte ich leise.
Jetzt war er derjenige, durch dessen Augen ein dunkler Schatten huschte. Ich biss mir auf die Zunge. Warum war ich nur manchmal so ein emotionaler Totalschaden?
»Allem voran bin ich auch nur ein Mensch.«
Wir starrten uns an. Was auch immer er in meinem Gesichtsausdruck sah, es brachte ihn dazu, sich nervös durch die Haare fahren.
»Du machst das professionell, oder?«, fragte er ernst.
Ich blinzelte irritiert. »Ich mache was professionell?«
»Nein, warte, das klang falsch«, korrigierte er sich selbst. »Ich meine … du bist ausgebildete Security, stimmt’s?«
Verblüfft riss ich die Augen auf. »Ja. Ja, das bin ich. Was hat mich verraten?«
Diesmal grinste er so breit, dass seine Zähne weiß aufblitzten. »So ziemlich alles. Außerdem habe ich genug mit Bodyguards zu tun, um einen zu erkennen, wenn er vor mir steht.«
»Erwischt.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ist natürlich nicht so ein toller Job, wie Prinz zu sein«, warf ich schmunzelnd ein.
»Prinz zu sein, ist überhaupt kein toller Job«, erwiderte Prescot trocken und lehnte müde den Kopf zurück. »Nichts an diesem Leben ist schön. Es gehört einem nicht selbst. Man ist nur ein Abziehbild, eine Figur, ein Schauspieler, der eine Rolle einnimmt, die in dieser Welt schon lange keinen echten Sinn mehr hat.«
Interessiert musterte ich ihn, und von der Resignation in seiner Stimme wurde mir das Herz ein wenig schwer. Reflexartig nahm ich seine Hand und drückte sie. »Ich verstehe, wie es ist, keinen Platz in dieser Welt zu haben. Aber der Trick liegt darin, sich selbst einen zu schaffen«, sagte ich ernst.
Prescot sah mich an, schwieg jedoch. Ich unterdrückte den Drang, ihn in die Arme zu nehmen und mich zu entschuldigen. Wofür genau, wusste ich nicht.
»Wenn du kein Prinz wärst, was wärst du dann gern?«
»Hm …«
Er zog mit dem Daumen Kreise auf meinem Handrücken. Einem Klienten gegenüber wäre ein solch intimer Körperkontakt ein a
bsolutes Tabu gewesen. Doch weder war Prescot mein Klient noch hatte ich das Bedürfnis, die Hand wegzuziehen.
»Sport«, murmelte er schließlich. »Ich wollte weder in die Politik noch sonst etwas mit diesem Leben zu tun haben. Wenn ich’s mir aussuchen könnte, würde ich wieder Sport studieren. Ich wollte es im Schwimmen immer bis auf Olympianiveau bringen. Als Kind hab ich davon geträumt, mit einer fetten Goldmedaille um den Hals nach Hause zu kommen. Tja, und jetzt komme ich wahrscheinlich mit einer fetten Goldkrone nach Hause. Auch … gut.«
Er klang nicht, als wäre es auch gut.
Seufzend richtete er sich auf. »Wir sind gleich da«, sagte er leise und irgendwie unglücklich. Seine Hand krampfte sich fester um meine.
»Kann ich noch was für dich tun?«, fragte ich und zuckte zusammen, als durch Prescots bisher schlaffen Körper ein entschlossener Ruck ging. Seine Augen weiteten sich, und er sah mich an, als hätte er eine geniale Idee gehabt. Oder eine sehr dumme.
»Ja, das kannst du«, sagte er langsam und lehnte sich zu mir hinüber, obwohl seine Cousine dabei beinahe von seinem Schoß rutschte. »Arbeite für mich.«
»Was?«
»Arbeite für mich«, wiederholte er. »Ich brauche dich, Silver. Ich brauche jemanden, dem ich vertrauen kann, und dort drinnen in diesem beschissenen Palast kann ich niemandem vertrauen, außer vielleicht dem Dienstmädchen. Aber mit dir … du … du bist perfekt.«
Er kam ein wenig ins Stottern, als ich ihm ruckartig die Hand entzog.
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, Prescot«, warf ich ein.
Er starrte mich an. »Doch! Warum nicht?«
»Erstens bin ich hier nur auf Urlaub …«
»Ich bezahle dich. So viel du willst …«
»Zweitens …«, unterbrach ich ihn, »… bin ich nicht ausgebildet für Fälle wie dich.«
»Für Fälle wie mich?«
»Ja, Prescot, für Fälle wie dich. Ich könnte niemals wirklich garantieren, alles im Blick zu behalten. Außerdem hast du sicher bereits ein eingespieltes Team aus Bodyguards, die es nicht gut finden werden, wenn eine Fremde …«
»Aber ich kann meinen Bodyguards nicht vertrauen«, unterbrach mich Prescot und sah mich fast schon hilflos an. »Sie gehören der Krone, und die Krone gehört immer noch meinem Onkel. Sie bespitzeln mich. Egal, wohin ich gehe, egal, was ich sage, egal, was ich esse, andauernd habe ich Angst, dass einer der Angestellten Wind davon bekommt. Ich kann nicht mehr schlafen, ich kann nicht mehr essen, ohne Angst zu haben. Aber du wärst perfekt für mi… für diesen Job.«
Wir starrten uns an. Die Verzweiflung hing so schwer in der Luft, dass mir das Atmen schwerfiel. Ich zögerte. Ein Teil von mir wollte Prescot beschützen, wollte aussteigen, seine Hand nehmen und sie erst wieder loslassen, wenn der gehetzte Ausdruck aus seinen Augen verschwunden war. Und trotzdem …
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Prescot, das ist nicht realistisch«, erwiderte ich ernst.
Er schluckte verkrampft und starrte nach draußen. Unser Taxi stand an einer Straßenecke. Am Ende der Abbiegung war eine riesige Stadtvilla zu sehen, von der ich annahm, dass sie Prescots Zuhause war. Wie nannte man ein halbes Schloss? Bastion? Gefängnis? Glitterflitter mit Tür dran? Das Gebäude lag wuchtig vor uns. Automatisch suchten meine Augen die Straße nach Paparazzi ab, aber entweder gab es eine Verordnung, nach der diese nachts nicht vor dem Palais herumlungern durften, oder sie versteckten sich wahnsinnig gut. Denn außer unserem Taxi war nichts und niemand zu sehen.
»Ich will dich aber wiedersehen …«, sagte Prescot plötzlich mit rauer Stimme und musterte mich fast schon scheu. »Darf ich dich wiedersehen?«
Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen, trotzdem antwortete ich in strengem Ton. »Bring deine Cousine nach drinnen, Prescot.«
»Aber …«
»Die Paparazzi könnten jede Sekunde wieder hier auftauchen«, sagte ich eindringlicher.
Prescots Augen wurden dunkel, während seine Schultern in sich zusammensackten. »Sicher«, murmelte er.
»Geh. Ich pass auf, dass nichts mehr passiert«, versicherte ich ihm.
Er sah nicht glücklich darüber aus, fügte sich jedoch, während ich ihm half, sich das Mädchen über die Schulter zu hieven.
»Danke, Silver«, sagte er leise.
»Immer wieder gern«, flüsterte ich zurück.
Ich wollte ihn berühren und tat es dennoch nicht. Prescot wandte den Blick ab, stieg aus und verschwand die Straße hinab. Ich tat das Richtige – jedenfalls versicherte ich mir das selbst, während ich beobachtete, wie er durch das große Tor verschwand, das ihn verschluckte wie ein Löwenmaul. Ich tat das Richtige.
»Wo soll ich Sie hinbringen, Miss?«, fragte der Taxifahrer sichtlich ungeduldig.
Ich riss mich los. Tief atmete ich durch und wollte ihm die Adresse durchgeben, als jemand hektisch gegen die Fensterscheibe klopfte. Ich zuckte zusammen. Der Taxifahrer zuckte ebenfalls zusammen. Draußen stand Prescot. Die Straßenlaterne beleuchtete ihn von hinten und tauchte seine Gestalt in ein Schattenspiel aus Gold und Schwarz. Schwer atmend strich er sich das Haar aus dem Gesicht und bedeutete mir, die Fensterscheibe herunterzulassen. Schnell friemelte ich an der altmodischen Kurbel herum und ließ die Scheibe hinunter, bis mir der kalte Wind ins Gesicht peitschte.
»Prescot? Ist was pass…«, setzte ich an und erstarrte, als er sich bückte, mein Gesicht zwischen seine Hände nahm und … mich küsste. Seine Lippen legten sich federleicht auf meine. Sie schmeckten nach dem kalten Wind, nach etwas Süßem, und sie wurden mit jedem Herzschlag, den wir einander berührten, wärmer. Ich erstarrte. Alles an mir. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich noch atmete.
Prescots Atem streifte meine Unterlippe. Seine Finger griffen in meine Haare, hielten mich, und ehe ich wirklich begriff, was ich da tat, schlossen sich meine Augen und ich erwiderte den Kuss. Fühlte ihn, schmeckte ihn, süß und herb zugleich. Ich schauderte, berührte die langen, starken Finger, die mich so liebevoll hielten, und …
Ein Räuspern ließ uns auseinanderfahren. »Wollen Sie aussteigen?«, erkundigte sich der Taxifahrer bei mir.
»Ich … ich …«, stammelte ich nur atemlos und sah zu Prescot auf, dessen Atem in der Luft hing.
»Nein, bringen Sie sie bitte nach Hause«, sagte er an meiner Statt. Bestimmt, aber sanft. Seine Augen leuchteten warm und weich. »Ich wollte mich nur verabschieden. Dauert bloß noch eine Sekunde.«
Der Taxifahrer grunzte, doch Prescot scherte sich nicht darum, beugte sich nur wieder hinab und nahm meine Hand.
»Was …?«, setzte ich wieder an. Viel mehr als stammelnde Halbsätze schien mein Hirn gerade nicht herauszubringen.
Prescot antwortete nicht. Er drehte nur meine Handfläche herum, zückte einen Stift und begann, etwas draufzuschreiben. Das Kitzeln des Stifts jagte mir durch den gesamten Körper. Jede Zelle tanzte unter den eleganten Linien, die Prescot auf meiner Haut hinterließ. Bevor ich einen Blick darauf werfen konnte, war er fertig, ließ mich los und lächelte.
»Nur für den Fall, dass ich mich eines Tages bei dir revanchieren kann. Auf Wiedersehen, Silver.«
Ohne jedes weitere Wort drehte er sich um und verschwand wieder die Straße hinab. Ich starrte ihm nach, während ich dem Taxifahrer endlich Ryans Adresse durchgab.
Das Auto fuhr los, und ich schaffte es erst zwei Kreuzungen später, die Hand zu öffnen, die immer noch von Prescots Berührung kribbelte. Darauf standen acht Ziffern mit einem kleinen Krönchen darüber. Prescots Handynummer.
Silver
»Du bist lahm! Ich kann viel höher schaukeln als du!«
Ich lachte, zog die Beine an, um noch mehr Schwung zu holen, und schoss in die Höhe. Der Wind pfiff mir um die Ohren. In Florida gab es den Geruch von frisch gemähtem Gras nicht, da die meisten Leute Kunstrasen auslegen ließen, aber saftig und grün sah es trotzdem aus, als ich wie ein Vogel darüber hinwegflog.
»Gar nicht wahr! Ich kann noch viel höher!«, brüllte eine Stimme in mein Ohr, und Ryan flog an m
ir vorbei.
Seine kurzen Beine steckten in beigen Shorts, blaue Flecken bedeckten seine Knie. Genau wie bei mir. Er lachte, sodass ihm das wirre Nest aus schwarzem Haar um die grünen Augen fiel. Verflucht, er flog wirklich höher! Ich musste irgendwas tun, was cooler war.
»Und ich kann fliegen!«, brüllte ich Ryans Rücken an, der soeben wieder von der Schwerkraft angezogen wurde und zurückschwang.
Konzentriert kniff ich die Augen zusammen, holte tief Luft und ignorierte das Wummern in meiner Brust sowie das Stimmchen in meinem Kopf, das klang wie meine Mutter, wenn ich etwas Gefährliches tat. Aber diese Stimme war längst nur noch ein Echo, und der Schmerz riss plötzlich so heftig daran, dass ich am höchsten Punkt einfach losließ. Meine Finger lösten sich von der kupfrig riechenden Kette. Die Schwerkraft zog an mir, und für einen Moment war es wirklich so, als würde ich fliegen, hoch, immer höher, weit weg von dem Schmerz in mir, der viel zu groß für mein kleines Herz war. Der Wind trieb mir die Tränen in die Augen, und ich muss wohl gelacht haben, während Ryan mir ehrfürchtig mit dem Blick folgte. Genauso sollte er mich immer ansehen. Genauso sollten sie mich alle ansehen.
»Ry…«, setzte ich an, da hörte ich ihn auch schon schreien.
Ich wusste noch, dass ich mich wunderte, warum er plötzlich Angst hatte, obwohl es mir doch endlich gut ging. Zumindest bis ich bemerkte, wie meine Flügel zerfielen. Ich verlor sie und fiel, fiel, fiel, bis ich hart am Boden auftraf. Das Knacken meiner Knochen übertönte Ryans Schrei. Ich wusste nicht mehr genau, was danach passierte, alles verschwamm zu einem Wirbel aus Farben, Gerüchen und Geräuschen. An eins jedoch konnte ich mich noch ganz genau erinnern: den unglaublichen Schmerz in mir, der allerdings nicht von dem gebrochenen Unterarm ausging, sondern von der Erkenntnis, niemals fliegen zu können. Niemals das Leben hinter mir lassen zu können, das mich Stück für Stück erstickte und unter sich begrub.
»Was soll das heißen?«
Ryan sah stolz auf, die Zunge zwischen die Zähne geklemmt, während er den roten Filzstift über meinen Gips wandern ließ. Das Krankenhauszimmer roch nach Desinfektionsmittel.